Fluglärm: Staatsvertrag als Kapitulation (infosperber)

Publiziert von VFSNinfo am
Verkehrsministerin Doris Leuthard hat schlecht verhandelt. Und die meisten Lärmgeplagten erhalten nicht einmal Schallschutzfenster.

Urs P. Gasche

Heute fliegen grosse Jumbo-Jets und Airbus-Maschinen sowie schwere Frachtflugzeuge vom Süden her jeden Tag ab 06.00 Uhr im Dreiminutentakt nur 300 bis 700 Meter über Zehntausende von Wohnungen und Häuser in Zürichs Vorort Schwamendingen und andern dicht besiedelten Orten unter den Flugschneisen. Unter der Woche dauert der Terror bis 07.00 Uhr, an den Ruhetagen Samstag und Sonntag sogar länger bis 09.00 Uhr. Tagsüber dürfen die Maschinen von Norden her über Deutschland landen. Doch in den Nacht-Randstunden ab 21.00 Uhr beginnt es im Süden von Zürich wieder zu dröhnen, bis mindestens 23.30 Uhr.

Sobald der neue Staatsvertrag mit Deutschland in Kraft tritt, den Bundesrätin Doris Leuthard ausgehandelt hat, werden die Einwohner unter den beiden südöstlich und östlich von Zürich liegenden Flugschneisen an keinem Tag länger ruhig schlafen können. Das donnernde Aufwachen hört an Wochentagen einzig eine halbe Stunde früher um 06.30 Uhr auf statt um 07.00 Uhr. An Wochenenden bleibt alles beim Alten.

Deutschland beharrte mit Erfolg, dass von 06.00 bis 06.30 Uhr keine Flüge über deutsches Territorium gestattet sind.

Wegen einer halben Stunde werden also an Wochentagen Zehntausende weiterhin um 06.00 Uhr aus dem Schlaf gerissen, obwohl Anflüge aus dem Süden 18mal mehr Menschen belästigen als Anflüge aus dem Norden.

An den Abenden wird es alle Tage schlimmer: Schon ab 20.00 Uhr wird nicht mehr über Deutschland an- und abgeflogen.

Das ist nur ein Teil der Folgen dieses Staatsvertrags, den das Parlament noch absegnen muss. Gegenüber deutschen Medien erklärte der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer (CDU) erfreut: «Vom Staatsvertrag profitiert die gesamte süddeutsche Region. Es wird künftig mehr Ruhe am deutschen Himmel geben.»

«Der Bundesrat hat ohne Strategie verhandelt»

In einem Leitartikel hatte NZZ-Chefredaktor Markus Spillmann Anfang Juli bedauert, dass Bundesrätin Leuthard «nicht härter gefeilscht» hat und als «Bittstellerin» aufgetreten sei anstatt Trümpfe auszuspielen. Der Streit um den Fluglärm hätte der Bundesrat nicht isoliert verhandeln sollen, sondern in einem Paket mit anderen Verhandlungsgegenständen. Warum bauen wir eine Neat, fragte Spillmann, und planen sogar einen zweiten Tunnel durch den Gotthard, um den sonnenhungrigen Deutschen eine staufreie Fahrt durch den Süden zu ermöglichen?

Ein Paket mit sachfremdem Geben und Neben hätte laut Spillmann allerdings vorausgesetzt, dass zwischen Aussen- und Aussenwirtschaftsdepartement und zwischen Bund und Kantonen kein «Potpurri an Kompetenzen und Zuständigkeiten» herrsche.

Zu Hause lässt Leuthards Departement die Lärmopfer im Stich

Eines steht fest: Der Ausbau des Flughafens Zürich und eine weitere Zunahme der Flugpassagiere haben Vorrang vor Klimazielen und vor dem Schutz der lärmgeplagten Bevölkerung. Und die Betroffenen dieser Wachstumspolitik werden nicht einmal entschädigt.

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Red. Der folgende Teil des Beitrags erschien auf Infosperber bereits am 5. Juli 2012.

Nicht einmal Schallschutzfenster bezahlt

Der Flughafen Zürich und die Fluggesellschaften zahlen den meisten vom massiven Lärm Betroffenen nicht einmal Schallschutzfenster, geschweige denn Entschädigungen für den verminderten Wert ihrer Liegenschaften. Die lächerlichen Motörchen zum Zustossen der Fenster vor 06.00 Uhr, die der Flughafen jetzt anbieten will, taugen wenig.

Was die Wertverminderung von Liegenschaften infolge Fluglärms betrifft, verkündete Bundesrätin Leuthard im letzten Mai, sie wolle Liegenschaftsbesitzer rechtlich besser stellen und einen automatischen Anspruch auf Ausgleichszahlungen vorschlagen. Eine entsprechende Vorlage will das Uvek jedoch erst Ende 2013 in die Vernehmlassung schicken.

Der frühere Verkehrsminister Moritz Leuenberger hatte in dieser Richtung keinen Finger gerührt. Das Wachstum des Flugverkehrs hatte immer Vorrang.

Das Wohlbefinden muss erheblich gestört sein

Ob der Flughafen Zürich Werteinbussen der Liegenschaften sowie auch die Kosten für Schallschutzfenster zahlen muss, hängt rechtlich davon ab, ob der Lärm «das Wohlbefinden erheblich stört». In Tausenden von Schlafzimmern unter den neuen Zürcher Flugschneisen tönt es morgens ab 6 Uhr bei offenen Fenstern so, wie wenn direkt neben dem Kopfkissen alle vier Minuten ein Motorrasenmäher oder ein Auto vorbei fährt (Lautstärke 80 bis 85 dBA). Bei geschlossenen Fenstern entspricht die Lautstärke mancher Flugzeuge immer noch einem Auto, das in der Stadt dicht am Fussgänger vorbei fährt.

Jeder Vierte muss stark gestört sein

Die Gesetzeslage wäre ziemlich klar. Die Bundesverfassung schützt die Menschen vor «lästigen» Einwirkungen. Das Umweltschutzgesetz verbietet deshalb nicht nur «schädlichen» Lärm, sondern auch Lärm, der das «Wohlbefinden erheblich stört» und damit «lästig» ist. «Lästig» sei der Lärm dann, hat das Bundesgericht in einem Urteil im Jahr 2000 präzisiert, wenn er «Leistungsfähigkeit und Lebensfreude, Naturgenuss, das Gefühl der Ungestörtheit, das private Leben überhaupt beeinträchtigt».

Sobald diese Beeinträchtigung von einem Viertel aller Lärmbetroffenen als «stark» empfunden wird, sei der Lärm im Sinne des Gesetzes «lästig». Warum muss der Lärm nur für einen Viertel der Betroffenen stark störend sein? Weil das Umweltschutzgesetz ausdrücklich vorschreibt, dass die Lärmverursacher «auf Personengruppen mit erhöhter Empflindlichkeit» Rücksicht nehmen müssen.

Erlaubter lästiger Lärm hat seinen Preis

Eine solche Rücksichtnahme ist für die Flughafen-Gesellschaften nicht möglich. Im «höheren öffentlichen Interesse» darf sie ihr Geschäft trotzdem betreiben. Ob 250\'000 Flugbewegungen pro Jahr im öffentlichen Interesse sind oder sogar 450\'000, müsste der Bundesrat entscheiden.

Sobald eine Flughafen-Gesellschaft die Lärmgrenzwerte überschreitet, hat dies allerdings seinen Preis. Sie muss Schallschutzfenster bezahlen, und die Betroffenen können Schadenersatz für den Wertverlust ihres Landes und ihrer Häuser erhalten. Das gilt jedenfalls für alle jene Betroffenen, die ihre teuren Häuser gekauft haben, bevor sie mit dem Fluglärm rechnen mussten.

Verordnung macht Gesetz zur Makulatur

Aber eben: Die vom Bundesrat verordneten Lärmgrenzwerte müssen überschritten sein, damit der Lärm juristisch als «lästig» gilt. Doch im Interesse der Fluglobbys hält der Bundesrat an einer Lärmschutzverordnung fest, die den Durchschnittswert zwischen 6 und 22 Uhr misst. Das hat zur fatalen Folge, dass einige Stunden starker Fluglärm am frühen Morgen den Tages-Grenzwert nicht erreichen. Die NZZ hat ausgerechnet, dass bei der geltenden Messmethode nur eine kleinere Gegend unmittelbar beim Flughafen entschädigungsberechtigt ist.

Obwohl das tägliche brutale Aufwecken um 06.00 Uhr eine neue Situation schafft, und obwohl das Bundesgericht vorgeschrieben hat, dass die Lärmschutzverordnung die «kritische Aufweckschwelle» und die «besondere Ruhebedürftigkeit der Bevölkerung an Sonntagen» berücksichtigen muss, weigerte sich Bundesrat Leuenberger und bisher auch Bundesrätin Leuthard als Chefin des Departements für Umwelt und Verkehr Uvek eine Verordnung vorzuschlagen, die der neuen Situation Rechnung trägt.

Uvek-Pressesprecherin Annetta Bundi lässt zwar ausrichten, dass für Bundesrätin Leuthard «keineswegs nur das Wachstum des Flugverkehrs zählt», sondern auch «die Vorgaben von Verfassung, Gesetz und Bundesgericht respektiert werden» sollen. Diesen Worten sind bisher allerdings keine Taten gefolgt. Die Lärmschutzverordnung ist noch heute so formuliert, dass ein Lärmpegel von 85 dBA jeden Morgen ab 06.00 Uhr für die Anwohner nicht als «lästig» gilt. Uvek-Mitarbeitende, die unter der Flugschneise übernachtet haben, sind anderer Ansicht.

Auf die Frage, ob die Lärmschutzverordnung die Erfordernisse des Umweltschutzgesetzes noch erfüllt, hatte Bundesrat Leuenberger auf «Experten» verwiesen, welche die Lärmgrenzwerte festgesetzt und sich «auf die Erfahrung von Betroffenen abgestützt» hätten. Schliesslich spielte Leuenberger den Naiven: «Würde der Bundesrat die Lärmgrenzwerte tiefer ansetzen, würde das den Menschen um den Flughafen Zürich nichts nützen.» Kein Wort davon, dass alle diese Menschen um Milliarden an Entschädigungen geprellt werden und auch Schallschutzfenster aus dem eigenen Sack zahlen müssen, so lange die bundesrätliche Verordnung den Lärm nicht als «lästig» anerkennt.

Behauptung widerspricht dem Gesetz

Auf eine nachgereichte Frage, ob Bundesrat Leuenberger tatsächlich der Meinung sei, dass «diese Lärmimmissionen nicht ‚lästig’ im Sinne der Bundesverfassung» seien, und «das Wohlbefinden nicht ‚erheblich stören’ im Sinne des Umweltschutzgesetzes», präzisierte sein Departements-Sekretariat: «Massgeblich für die Festlegung der Lärmgrenzwerte ist einzig der Gesundheitsschutz.»

Diese Behauptung widerspricht klar dem Gesetz, welches Grenzwerte nicht nur von (Gesundheits-)Schäden abhängig macht, sondern ausdrücklich auch von «lästigen Einwirkungen» und «gestörtem Wohlbefinden». Auch das Bundesgericht hat schon mehrmals bestätigt, dass eine Gesundheitsgefährdung nicht nachgewiesen werden muss.

Immerhin nahm das Generalsekretariat die Behauptung Leuenbergers zurück, dass tiefere Lärmgrenzwerte den Menschen nichts nützen würden: «Der Flughafen müsste Schallschutzfenster bezahlen und es könnte sein, dass mehr Betroffene einen Anspruch auf eine Entschädigung hätten.» Also!

Doch was nicht sein darf, weil es den Flughafen-Betreibern vielleicht Milliarden kosten würde, kann nicht sein. Auch Bundesrätin Doris Leuthard liess die Lärmschutzverordnung bisher unangestastet, obwohl sich viel mehr als das geforderte Viertel der betroffenen Bevölkerung im Wohlbefinden stark gestört fühlt.

Bisher nur Gespräche geführt

Immerhin habe die Bundesrätin bereits im Februar 2011 und dann wieder im März 2012 mit Vertretern der Zürcher Regierung, des Flughafens sowie mit Vertretern der Gemeinden rund um den Flughafen Zürich Gespräche geführt, erklärt Uvek-Sprecherin Bundi Infosperber. Es sei dabei auch um die Frage gegangen, «wie das Bundesgerichtsurteil vom 22.12.2010 umgesetzt werden kann». Parallel dazu seien verwaltungsinterne Abklärungen im Gang. Ob es dabei darum geht, die Lärmschutzverordnung dem Umweltschutzgesetz anzupassen, oder darum, das Umweltschutzgesetz aufzuweichen, wollte das Uvek nicht sagen: «Der Sachverhalt ist komplex».

Wirtschaftliche Interessen heben die Lästigkeit von Lärm nicht auf

Beim Festsetzen der Lärmgrenzwerte lässt das Umweltschutzgesetz keinen Spielraum offen: Nur der Schutz der Bevölkerung darf den Ausschlag geben. Wirtschaftliche Interessen dürfen keine Rolle spielen, eine Interessenabwägung muss nicht stattfinden. Eigentlich sollte dies der Bundesrat am besten wissen. In seiner Botschaft zum Umweltschutzgesetz hatte er 1979 selber geschrieben, dass die Grenzwerte «unabhängig von der technischen Realisierbarkeit und wirtschaftlichen Tragbarkeit zu bestimmen sind». Trotzdem setzte der Bundesrat im Jahr 1999 die Grenzwerte für den Fluglärm «vor allem aus ökonomischen Überlegungen» zu hoch an, wie das Bundesgericht rügen musste. Wider besseres Wissen wollte der Bundesrat den Flughafen Zürich widerrechtlich schonen.

Das Bundesgericht musste den Bundesrat daran erinnern, dass «solche (wirtschaftlichen) Interessen keine Rolle spielen sollen und auf jeden Fall nicht ausschlaggebend sein» dürfen. Das höchste Gericht hob die damalige Lärmschutzverordnung im Jahr 2000 als gesetzeswidrig auf.

Die seither geltende Lärmschutzverordnung, die Lärm-Durchschnittswerte über den ganzen Tag als Grenzwert vorsieht, trägt dem täglichen Spitzenlärm zwischen 06.00 und 07.00 an Werktagen und 06.00 und 09.00 an Wochenenden und Feiertagen in keiner Weise Rechnung.

Devise lautet: Zeit schinden

Doch die klaren Vorgaben von Verfassung, Gesetz und Bundesgericht haben bisher auch Bundesrätin Leuthard nicht dazu bewogen, die Lärmschutzverordnung anzupassen und das Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2010 (!) zu respektieren. Falls sie es doch noch tun sollte, kommt es für viele Lärmgeplagte zu spät: Sie haben Lärmschutzfenster und andere Massnahmen zur Schalldämpfung inzwischen auf eigene Kosten realisiert, oder sie haben ihr Haus oder ihre Wohnung verkauft. Die neuen Besitzer gehen auf jeden Fall leer aus, weil sie beim Kauf mit dem Fluglärm rechnen mussten.

Deshalb lautet die Devise des Flughafens Zürich AG und dessen Aktionären Kanton Zürich und Stadt Zürich: Möglichst viel Zeit schinden.

Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Besitzer eines vermieteten Hauses in Gockhausen ZH, wo der Autor bis Ende 2004 lebte, direkt unter der neuen Flugschneise. Er hat im 2006 im Orell Füssli-Verlag das Buch «Geplagt und enteignet» herausgegeben.

infosperber, 05.09.2012

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