Bei den Leidtragenden (BAZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Im Fluglärmstreit stehen sich die Betroffenen auf beiden Seiten der Grenze unversöhnlich gegenüber. Wie ein Augenschein im deutschen Waldshut und im zürcherischen Gockhausen zeigt, ist eine Lösung nicht in Sicht.

Ruhig ist es in Waldshut an diesem Donnerstagmittag. Nichts zu hören von den Flugzeugen. Dabei liegt die badische Kreisstadt dicht an der Einflugschneise des Zürcher Flughafens. Sie wohne erst seit einem Monat hier und vom Fluglärm habe sie in diesen vier Wochen noch nichts mitbekommen, erklärt uns eine Dame mit norddeutschem Akzent im Café Albrecht.

Wir versuchen es einige Häuser weiter. Doch im «Rheinischen Hof» ist es schwer, mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen: Die Kundschaft besteht hier aus Schweizer Einkaufstouristen. Ja, er sei persönlich betroffen, daheim im aargauischen Spreitenbach, erklärt ein pensionierter SBB-Mitarbeiter, der hier ist, um Einlegesohlen zu kaufen. «Stören tut es mich eigentlich nicht», sagt er und beugt sich wieder über sein Eglifilet. «Im Tal der Motoren» lebe er, Autobahnen, Bahnlinien, da komme es auf ein bisschen Fluglärm auch nicht mehr an. Überhaupt, andere Dinge interessieren mehr. Wie das denn sei, «mit der Basler Zeitung und dem Somm?»

Etwas weniger distinguiert als im «Rheinischen Hof» geht es im «Lamm» zu. Das Volk trinkt Bier und labt sich am Tagesessen, Schweinebraten «König Ludwig» für 10.90 Euro. «Unverschämt» sei das, «was uns die ‹Schwizzer› da zumuten, die sollen ihren Krach selber aushalten», schimpft ein Rentner, doch seine Zechkumpane wollen nicht so recht aufspringen auf den Zug: Wirklich zu leiden unter dem Lärm scheinen auch sie nicht.

Ansichten eines Grenzgängers

Heinrich Villiger ist ein Grenzgänger. Einer der wenigen, die den Weg in die andere Richtung gehen: Täglich pendelt der Schweizer vom aargauischen Full ins badische Tiengen. Seit 1958 ist der heute 81-Jährige Geschäftsführer der deutschen Niederlassung des Schweizer Zigarrenherstellers. Sein Alter nimmt man ihm kaum ab. Mit seinem Vollbart sieht er ein bisschen aus wie ein lateinamerikanischer Grossgrundbesitzer, ein Haciendero, eine beeindruckende Erscheinung.

Villiger hätte viel zu erzählen, von seinen Geschäftsbeziehungen mit dem kommunistischen Kuba oder von seinem Bruder Kaspar, dem Alt-Bundesrat. Eigentlich schade, dass wir hier sind, um über eine Angelegenheit zu reden, die er für «eine Lappalie» hält. «Wir haben ganz andere Verkehrsprobleme hier in der Region», erklärt er. «Samstags, wenn alle Schweizer zum Einkaufen kommen, herrscht hier das absolute Chaos.» 45 Minuten habe er am letzten Samstag von der Fabrik nach Hause gebraucht, für zehn Kilometer. Eine zweite Rheinbrücke müsse her. Der Fluglärm sei da noch das kleinste Problem. «Wir sind Teil einer Agglomeration, wir leben nicht mehr wie die Pfahlbauer.» In Waldshut höre man vom Fluglärm gar nichts, sagt Villiger. «Das Problem wird hochstilisiert. Die Politiker denken nur an ihre Wiederwahl.»

1910 gründete Villigers Grossmutter die deutsche Niederlassung. «Wir gehören hier zum alten Eisen», sagt der Unternehmer, und tatsächlich: Seine Verbindungen mit der Region sind vielfältig und tief. Auch ein ausgedehntes Jagdrevier hat er in der Nähe, und dort besitzt er einen Bauernhof, der direkt unter der Einflugschneise liegt. Wenn auf der deutschen Seite jemand unter dem Fluglärm leidet, dann ist es Villigers Pächter, der Biobauer Alan Randebrock. Zum Greifen nahe erscheinen die Maschinen dem Betrachter, wenn sie über dessen Anwesen donnern.

«Drinnen ist es harmlos»

Villiger lässt Besucher und Bauer allein. Er lächelt fein: «Ich lasse Sie mal miteinander reden», sagt er – vielleicht das Beste, denn bei diesem Thema haben der Landbesitzer und sein Pächter das Heu wahrlich nicht auf derselben Bühne. Um sieben Uhr morgens werde er von den Fliegern geweckt, berichtet Randebrock – bei offenem Fenster. Und draussen zu telefonieren sei «mühsam».

Hier, auf Randebrocks Hof, nervt der Lärm im Freien schon ganz gehörig, das stimmt. Doch «drinnen ist es harmlos», das räumt auch Randebrock ein. Und eines muss man bedenken: Das Dörfchen Hohentengen liegt noch einmal 200 Meter tiefer als Randebrocks Hof – und gute fünf Kilometer östlich der Einflugschneise. Um dort zu leiden, dafür muss man schon sehr empfindlich sein. Und Hohentengen ist diejenige deutsche Gemeinde, die am lautesten stöhnt.

«Problem wird zur nationalen Frage hochstilisiert»

Das Landratsamt in Waldshut: ein modernes, funktionales Gebäude, wie es überall in Deutschland stehen könnte. Ein Zweckbau, in dem man sich nicht einmal unwohl fühlt. Ein Monument der Nüchternheit und der Vernunft. Hier residieren besonnene deutsche Verwaltungsbeamte, denkt man. Der Hausherr ist Landrat Tilman Bollacher. Villiger ist mit Bollacher befreundet, doch was den Streit um die Anflugrouten anbelangt, sei der ein Fanatiker. So sieht er eigentlich nicht aus. Ein freundlicher Herr mit Haarkranz. Der Waldshuter Landrat gilt als inoffizieller Anführer der deutschen Fluglärmgegner. Warum, das wird schnell klar. Bollacher (48) redet jeden Gegner an die Wand. Kein Zweifel, da hat einer sein Thema gefunden. «Jetzt sage ich Ihnen mal was», hebt er an: «Das ist doch eigentlich ein deutscher Flughafen. Deutschland hat doch gar keinen Lärm. Wir leben doch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. So schlimm ist das doch alles nicht.» Damit hat Bollacher die Argumente der Schweizer Seite vorweggenommen – und sie dem Besucher aus der Hand genommen. Um umso effektvoller auszuführen, warum das alles eben kein ernsthaftes Argument sein kann. In Wahrheit lebten unter der Südanflugroute nämlich weniger Leute als unter dem «Fächer», unter dem auf deutscher Seite die Maschinen anflögen. Und überhaupt: «Stellen Sie sich mal vor, Sie fahren immer über mein Grundstück. Irgendwann sage ich: ‹Es ist in Ordnung, was Sie da tun, aber tun Sie es nicht zu oft›, worauf Sie sagen: ‹Wenn ich dort nicht fahren darf, wann ich will, sind unsere Beziehungen belastet.›» Zürich sei nun einmal ein Schweizer Flughafen.

Aus Bollachers Sicht stellt sich die Sache so dar: «Das Problem wird zur nationalen Frage hochstilisiert.» Diesen Satz hat man so ähnlich schon einmal gehört, von Heinrich Villiger. Bei ihm war es allerdings die deutsche Seite, die übertreibt, für Bollacher sind es die Schweizer: «Es geht ja im Grunde nicht um sehr viel. Wir sind weiter bereit, 80\'000 Flüge, das sind gegenwärtig etwa 65 Prozent, über deutsches Gebiet gehen zu lassen. Aber weiteres Wachstum darf nicht zu unseren Lasten gehen.» Und eines müsse klar sein: «Die Sperrzeiten morgens und abends müssen bleiben. Das ist der Mindestschutz, den wir erreicht haben und den uns alle Gerichte bestätigt haben.»

Lärm in Gockhausen

Im zürcherischen Gockhausen ist der Unmut kaum zu übersehen: «Flugschneise Süd – NEIN», heisst es auf Plakaten, die überall im Dorf herumhängen, und: «Gekröpfter Nordanflug– JA». Morgens und abends starten und landen die Flugzeuge direkt über die vier Kilometer südlich vom Flughafen Kloten gelegene Gemeinde.

Tagsüber ist alles ruhig, dann wird über deutsches Territorium geflogen. Doch morgens und abends ist es verdammt laut hier, beinahe so laut wie im Garten des Biobauers Randebrock (Anm. VFSN: siehe Kommentar unten). «Dieser Bollacher», schimpft Nils Groten, «der will sich nur profilieren». Briefe habe er dem Waldshuter Landrat geschrieben. Eine Antwort habe er nie erhalten. Groten (72) ist ein Deutscher, der seit über 30 Jahren in Gockhausen lebt. Für eine französische Bank hat er bis zu seiner Pensionierung gearbeitet, in Genf, Luxemburg, London, Johannesburg, zuletzt in Zürich. Hier in Gockhausen ist er hängen geblieben, hat gehofft, Ruhe zu finden. Eine trügerische Hoffnung, denn seit 2000, seit Deutschland den Staatsvertrag von 1984 gekündigt hat, ist es mit der Ruhe vorbei. Seither donnern zwischen sechs und sieben Uhr 15 bis 20 Maschinen über Grotens schmuckes Häuschen. Morgens um sechs werde er wach, sagt Groten, zumindest bei geöffnetem Fenster. Abends gehe es wieder los mit dem Krach, bis kurz vor Mitternacht.

«Verlogen und unhaltbar»

Nun engagiert sich Groten im Verein «Flugschneise Süd – NEIN», nimmt teil an der monatlichen Mahnwache in Kloten. «Verlogen und unhaltbar» sei die Position seiner Landsleute ennet der Grenze, schimpft er, doch die Schweizer Politiker seien leider «in dieser Beziehung zu blöd, zu blöd, um die richtigen Argumente auf den Tisch zu bringen.» Der frühere Verkehrsminister Moritz Leuenberger sei «die grösste Null» gewesen. Bis zu 90 Dezibel betrage der Lärm hier, während man in Deutschland fast gar nichts höre. Doch selbst im Schwarzwald zählten die Leute mittlerweile die Flugzeuge. Eigentlich, meint Groten, müsse man vom «Flugsichtstreit» reden, nicht vom «Fluglärmstreit». Groten ist auf der anderen Seite der Grenze aufgewachsen, in Singen. Dort befand sich früher der Warteraum, in dem die wartenden Flugzeuge kreisten. Nichts habe man gehört in Singen, berichtet Groten. Trotzdem liefen die Bürger in Blumberg, wohin man den Warteraum inzwischen verlegt habe, Sturm, und das, obwohl man dort ein Fernglas brauche, um die Flugzeuge überhaupt zu sehen. Sogar der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer sei dorthin gereist, um der lokalen Bürgerinitiative den Rücken zu stärken.

Wie sollten die Schweizer Politiker ihren deutschen Kollegen entgegentreten? «Kloten war für uns in Singen unser Heimatflughafen. Wie fliegt Bollacher denn nach Berlin? Fährt er vielleicht mit dem Velo nach Stuttgart? Ein grosser Teil der Passagiere dort sind Deutsche. Im Grunde ist das ein deutscher Flughafen», sagt Groten. Das müsse man den Deutschen endlich mal sagen.

Was bleibt, ist Ratlosigkeit

Da bleibt man ein wenig ratlos zurück, denn das ist ja eines der Hauptargumente, das seit Jahren vorgebracht wird – offenbar ohne grossen Erfolg. Wer hat nun recht? Das Problem: Ab wann es stört, das muss jeder für sich selbst beurteilen. Der persönliche Eindruck des Berichterstatters: Von wirklich schwer erträglichem Lärm sind auf der Schweizer Seite einige Zehntausend Leute betroffen, in Gockhausen, Wallisellen, Opfikon, Schwamendingen. Auf deutscher Seite sind es fünf Personen: der Landwirt Alan Randebrock und seine Familie. Doch die Deutschen sind in einer stärkeren Position: Wenn sie wollten, könnten sie An- und Abflüge über ihrem Gebiet ganz verbieten.

Worin könnte eine Lösung bestehen? Vielleicht in Gegengeschäften. Die Schweiz könnte den Deutschen Brücken, Autobahnen, Bahnlinien finanzieren, Deals im Steuerbereich anbieten – und dafür ein Entgegenkommen bei den Flugrouten verlangen. Bollacher lehnt das ab. Er glaubt nicht, dass Berlin mit Bern eine Lösung über die Köpfe der süddeutschen Anwohner hinweg aushandeln werde. «Berlin ist weit weg, das ist unser Problem», räumt der Landrat ein, aber: «Es ist uns gelungen, eine einheitliche Position über alle Parteigrenzen hinweg aufzubauen.» Das habe in der Schweiz «mächtig Eindruck gemacht». Kein Zweifel: Es ist den badischen Fluglärmgegnern ernst mit ihrem Anliegen. Die ganze Angelegenheit dürfte uns noch länger beschäftigen. Vielleicht noch Jahrzehnte.

Basler Zeitung, 19.03.2012


Kommentar VFSN zu: \""Doch morgens und abends ist es verdammt laut hier, beinahe so laut wie im Garten des Biobauers Randebrock.\""
Der Garten des Biobauers Randebrock wird in einer Höhe von 715 Metern überflogen, in Gockhausen beträgt die Überflughöhe nur 289 Meter. In Gockhausen ist es also massiv lauter!

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