Wieso in Europa viel zu viele Flüge verspätet sind (NZZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Die Pünktlichkeit von Fluggesellschaften hat sich in Europa in den Sommermonaten markant verschlechtert. Der Single European Sky, also eine zentralisierte Flugsicherung, bleibt unsinnigerweise ein leerer Traum. Es ist deshalb nicht weit bis zum wiederkehrenden Albtraum.

«Über den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein». Der Song des deutschen Liedermachers Reinhard Mey klingt noch wunderschön in unseren Ohren. Aber wenn es um die Luftfahrt Europas geht, ist in diesem Hochsommer so ziemlich das Gegenteil der Fall. Die Verspätungen brachen im Juli alle Rekorde, weil es wiederholt zu Überlastungen infolge von personeller Knappheit kam oder schwierige Witterungsbedingungen herrschten. Eurocontrol errechnete, dass von 1,08 Mio. im Juli absolvierten Flügen sich deren 244 713 verspäteten, davon gut die Hälfte um mehr als 15 Minuten.

Ein enormes Wachstum

Der Konzernchef der Swiss, Thomas Klühr, wies in einem NZZ-Interview jüngst darauf hin, dass das Ziel, mindestens 80% der Flüge mit maximal 15 Minuten abzuwickeln, dieses Jahr mit grosser Wahrscheinlichkeit verfehlt werde. Ausserdem merkte er kritisch an, die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Luftraums (Single European Sky) stehe nicht weit oben auf der Prioritätenliste der EU-Kommission.

Es ist fast nicht vermittelbar, aber mehr als zwei Jahrzehnte nach der Vollendung des EU-Binnenmarktes werden immer noch gleichsam Landesgrenzen in den Himmel hochgezogen. Damit wird auf dem alten Kontinent eine auch aus Sicherheitsgründen gefährliche Fragmentierung des Luftraums zementiert. Etabliert sind zurzeit neun sogenannte funktionale Luftraum-Blöcke (Functional Airspace Blocks; FAB).

Die Schweiz ist zusammen mit Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten im grössten Block vereint, der etwa für die Hälfte des in Europa erreichten Verkehrsvolumens steht. Dabei stösst die seit Jahren robust wachsende Nachfrage nach Flügen vielerorts auf einen stark nachhinkenden Ausbau von Infrastruktur. Vor allem die von Fluglotsen erbrachte Dienstleistung Flugsicherung, aber auch mehrere Flughäfen halten mit dem Ansturm der Konsumenten fast nicht mehr Schritt.

Eurocontrol, zuständig für die Luftverkehrskontrolle in Europa, präsentiert detaillierte Statistiken, die unter anderem den starken Wachstumsschub im Fluggeschäft dokumentieren. Fliegen war vor Jahrzehnten ein Luxusgut, ist nun aber für breite Bevölkerungskreise erschwinglich. Des Öfteren locken vor allem die Billigfluggesellschaften mit Schnäppchen-Preisen Passagiere an Bord, wobei die effektiven Kosten je Sitz nicht mehr erwirtschaftet werden. Die Innovation des Flugzeugbaus ermöglicht sukzessive Effizienzgewinne, was das Fliegen billiger macht.

Im Juni 2018 stockte Eurowings die Zahl ihrer Flüge im Vergleich mit dem Vorjahresmonat um täglich 340 auf, es folgen Easy Jet (+119), Ryanair (+115), Lufthansa (+101) und Turkish Airlines (+98). Die Integration von Teilen der Air Berlin liess die Lufthansa-Tochter Eurowings in neue Sphären aufsteigen.

Negative Netzwerkeffekte

Am 29. Juni dieses Jahres war der EU-Himmel mit 36 825 Flügen so dicht bevölkert wie noch nie. Zurzeit wächst die Luftfahrt in Europa mit einer Jahresrate von rund 4%, damit etwa doppelt so schnell wie die Wirtschaft.

Kehrseite der Medaille sind die Verspätungen, die sich aus einer Vielzahl von Gründen ergeben können, und sich im Tagesverlauf jeweils kumulieren. Eurocontrol beobachtet den Verkehrsfluss sehr genau und hat für die Monate April bis Juli gegenüber dem Vorjahr eine glatte Verdoppelung der Verspätungen ermittelt. Das ist alarmierend, denn ohne das Beseitigen von Flaschenhälsen wird sich das Problem nächstes Jahr noch verschärfen. Im Juni führten vor allem Fluglotsenstreiks in Italien und in Marseille zu einer schwerwiegenden Behinderung des Flugverkehrs. Probleme mit der Flugsicherung brockten den Airlines täglich im Schnitt Verspätungen von addiert 1190 Stunden ein, wogegen Wetterprobleme in der Luft (502 Stunden) oder kapazitätsbedingte Verspätungen an Flughäfen (240 Stunden) weniger stark ins Gewicht fielen.

Die im Juni von Easy Jet, Ryanair, Wizz Air und der International Airlines Group (British Airways, Iberia, Vueling) an die EU-Kommission gerichtete Beschwerde spiegelt die wachsende Frustration. Die Airlines verlieren viel Geld, ohne Regress auf Fluglotsen oder Flughäfen nehmen zu können.

Im Prinzip war die EU 2014 schon einmal nahe daran, den Single European Sky mit einem Ruck voranzubringen. Man kann dabei an den Amerikanern Mass nehmen, die mit weniger Verspätungen auf einer ungefähr vergleichbaren Fläche ein höheres Verkehrsvolumen bewältigen. Würde eine zentralisierte Bewirtschaftung des EU-Luftraums an die Stelle der künstlich in neun FAB aufgeteilten Flugzonen treten, könnten ungefähr 1 Mrd. € im Jahr eingespart werden.

Letztlich geht es um das Überwinden des Widerstands nationaler Fluglotsen, aber auch um den Ausbau von Flughäfen. Die Eurocontrol-Statistiken sind ein ernstzunehmendes Warnzeichen. Bei einem Streik in einem einzigen FAB oder einem Gewitterherd in der Nähe eines grossen Flughafens entstehen negative Netzwerkeffekte, was die gesamte europäische Luftfahrt behindert.

Luft nach oben in Zürich

Der Flughafen Zürich erreichte in den vergangenen fünf Jahren mit rund 80% Pünktlichkeit (Verspätungen von weniger als 15 Minuten) akzeptable Werte, aber im Fall von Bise fiel die Stundenkapazität jeweils markant. Im Juni verursachten schwere Gewitter in Süddeutschland (Luftraum um Karlsruhe) und Streiks in Marseille die meisten Verspätungen, wobei sich diese Probleme auf das gesamte EU-Flugnetz ausweiteten, was dann auch in Zürich zur Ballung von Flügen zu später Abendstunde führte.

Der Flughafen Zürich schnitt im Juni mittelmässig ab mit 3046 Minuten Verspätung (Wien 3270 Minuten; Frankfurt 1604 Minuten), wobei schlechte Wetterbedingungen mitspielten. Im Juli sah es für Zürich besser aus. Auch weil die Schweiz mit Skyguide im Luftraum mit dem höchsten Verkehrsaufkommen liegt, muss sie an der Modernisierung der antiquierten EU-Flugsicherung interessiert sein und sich entsprechend einbringen.

NZZ, 13.08.2018