Immer mehr Swiss-Flüge verspätet (TA)

Publiziert von VFSNinfo am
So häufig unpünktlich wie die Swiss sind nur wenige Fluggesellschaften in Europa. Dies belastet das Image und das Resultat.

Wenn Markus Binkert am Morgen in seinem Büro den Computer hochfährt und einen ersten Blick auf die aktuelle Lage wirft, dann kann er schon eine ziemlich genaue Prognose für den ganzen Tag abgeben. «Um acht Uhr kann ich sagen, wie es am Abend mit den Verspätungen aussehen wird», erzählt der Vertriebschef der Swiss.

In den letzten Monaten dürfte sich Binkerts Stirn des Öftern schon beim Morgenkaffee in Sorgenfalten gelegt haben. Verspätungen sind bei der Swiss zum Normalzustand geworden. 2015 hoben fast 23 Prozent ihrer Flugzeuge zu spät ab oder kamen zu spät an, wie Daten des Luftfahrt-Analyseunternehmens OAG zeigen. Im Schnitt waren sie 35 Minuten verspätet. «Das ist inakzeptabel», sagt selbst der neue Unternehmenschef Thomas Klühr.

Verspätungen stellen für Fluggesellschaften ein immenses Imageproblem dar. «Die Pünktlichkeit ist wahrscheinlich einer der direktesten Einflussfaktoren auf das Passagiererlebnis», sagt Marc Borkowsky vom deutschen Beratungsunternehmen Aviationexperts. Dies gilt ganz besonders für die Swiss – nicht nur weil Pünktlichkeit eine der zentralen Tugenden ist, die man Schweizern gemeinhin zuspricht: Die Lufthansa-Tochter lebt besonders stark von den lukrativen, äusserst zeitsensitiven Geschäftskunden.

Doch nicht nur das Image leidet. Verspätungen schlagen sich auch im Resultat nieder. Sie bewirken einen höheren Kerosinverbrauch, höhere Personalkosten, höhere Unterhaltsausgaben und mitunter auch Entschädigungszahlungen. Die europäische Flugsicherung Eurocontrol schätzt die Kosten einer Verspätungsminute auf 79 Franken. Umgerechnet auf das ganze Jahresprogramm, bedeutet das für die Swiss zusätzliche Kosten von 90 Millionen Franken. Oder mit anderen Worten: Der Betriebsgewinn 2015 wäre ohne Verspätungen um ein Fünftel höher ausgefallen.

Wie drängend das Problem ist, zeigt ein Vergleich mit der Konkurrenz. In Europa liegt die Swiss in Sachen Pünktlichkeit auf einem der letzten Plätze. Nicht nur die Konzernmutter Lufthansa (rund 15 Prozent ihrer Flüge sind unpünktlich) und die Konzernschwester Austrian Airlines (11 Prozent) schneiden deutlich besser ab. Auch Rivalen wie Iberia (10 Prozent), Air Berlin (13 Prozent) oder Easyjet (20 Prozent) kommen auf tiefere Verspätungswerte. Besonders schlimm: Das Problem hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlimmert. Das ist keine gute Werbung für die «Next Generation Airline of Switzerland», wie die Swiss ihre Grossoffensive zur Steigerung der Kundenzufriedenheit nennt.

Flughafen im Dilemma

Hinter dem stetigen Abwärtstrend stehen diverse Faktoren, welche die Swiss nicht unbedingt selbst beeinflussen kann. «Der Flughafen Zürich stösst mehr und mehr an seine Kapazitätsgrenzen. Zudem wurden in den letzten Jahren die Sicherheitsauflagen an die Flugsicherung Skyguide am Flughafen Zürich wiederholt verschärft», erklärt Firmensprecherin Karin Müller. Verspätungen ausserhalb der Spitzenzeiten könnten darum nicht mehr abgebaut werden und führten später am Tag zu noch mehr Verspätungen.

Der Flughafen Zürich akzeptiert die Kritik zumindest teilweise. Aber auch er sieht sich in einem Dilemma gefangen. «Während das Angebot zurückging, stieg die Nachfrage kontinuierlich an», sagt Sprecherin Sonja Zöchling Stucki. Viel dagegen tun könne man nicht. Die Einschränkungen bei den Nordanflügen infolge der deutschen Sperrzeiten und der sich kreuzenden Pisten sowie verschiedene neue Sicherheitsmassnahmen, welche die Flugsicherung in den letzten Jahren umgesetzt hat, hätten die Kapazität des Flughafens Zürich reduziert, obwohl der Bedarf wächst.

Skyguide will die Kritik nicht auf sich sitzen lassen. «Die Swiss und der Flughafen Zürich müssten realistischerweise das Flugplanangebot an die aktuell herrschenden kapazitativen Rahmenbedingungen anpassen», sagt Sprecher Vlady Barrosa. Das geschehe aber nicht. «Heute werden mehr Slots verkauft, als die Kapazität eigentlich zulässt.»

In der Tat ist die Swiss am Schlamassel nicht unschuldig. Im Hinblick auf die Erneuerung ihrer Langstreckenflotte mit erheblich grösseren Boeing 777 rüstet die Fluggesellschaft auch ihre Europaflotte auf, um schneller mehr Passagiere zum Umsteigen nach Zürich bringen zu können. In die Airbusse A320 werden 12 zusätzliche Sitze gebaut, in die A321 gar 19 zusätzliche Sessel. Das hat die Standzeiten am Boden deutlich verlängert – vor allem weil gleichzeitig die neuen Gepäckregeln am Gate immer wieder für Ärger und Verzögerungen sorgen. «Verschiedene Prozesse bei der Passagierabfertigung am Gate und beim Beladen des Flugzeugs mussten angepasst und müssen weiter verfeinert werden», sagt Sprecherin Müller.

Abflüge weiter auseinander

Hinzu kommt, dass die Swiss vergangenen Sommer das Netz auf einen Schlag um 22 Europadestinationen erweiterte. Das hat die prekäre Situation bei der Lufthansa-Tochter verschärft. Der Effekt sei jedoch «minim», so Müller. Die zusätzlichen Flugverbindungen würden ausserhalb der Stosszeiten angeboten und seien nicht primär auf die Langstreckenverbindungen ausgerichtet.

Die Swiss ergreift Massnahmen: In der Mittagswelle steuert sie täglich ihre Langstreckenflüge, um eine optimale Anflugreihenfolge gewährleisten und unnötige Warteschleifen vermeiden zu können. Zudem hat sie ihre Abflüge in den Stosszeiten am Mittag und Nachmittag etwas weiter auseinandergelegt. So hat man mehr Spielraum. «Das ist aber nur ein kleiner Stein im ganzen Mosaik der möglichen Kapazitätsverbesserungen», so Müller.

Auch der Flughafen hat reagiert. «Wir haben einen Kapazitätsmanager eingestellt», sagt Sprecherin Zöchling Stucki. Der versuche mit kleinen Schritten, die vorhandenen Kapazitäten besser zu bewirtschaften. Andererseits hofft man auf eine baldige Einführung des sogenannt entflochtenen Ostkonzepts. Es trennt den an- und abfliegenden Verkehr voneinander, ist aber noch nicht bewilligt. Skyguide versucht, die Situation mit Weiterentwicklungen technischer Hilfsmittel zu verbessern.

Alle drei Partner sind sich in einem einig: Ohne Unterstützung der Politik gibt es keine nachhaltige Verbesserung.

Tages-Anzeiger, 31.03.2016