Berlin lässt Staatsvertrag in der Schublade (NZZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Für den deutschen Verkehrsminister Alexander Dobrindt ist der Fluglärm-Staatsvertrag ungenügend. Es brauche zwingend verbindliche Zusätze zu strittigen Fragen, fordert er. Die Schweiz sei am Zug.

Andreas Schürer

Darauf haben die Südbadener lange gewartet: Berlin kam nach Waldshut-Tiengen, der Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) hat sich am Freitagabend der Diskussion über Fluglärm gestellt. An Stoff für Debatten mangelt es nicht. Auf parteiübergreifende Ablehnung stossen in Südbaden sowohl das Flugverkehrsabkommen zwischen Deutschland und der Schweiz als auch das vom Flughafen Zürich beantragte angepasste Betriebsreglement 2014.

Der Aufmarsch zu dem von der CDU Südbaden organisierten Anlass in der Stadthalle Tiengen war denn auch gross. Rund 600 Zuhörer kamen, viele machten kein Hehl daraus, dass sie massive Mehrbelastungen fürchten und dass sie statt auf den Staatsvertrag lieber auf weitere einseitige Beschränkungen des süddeutschen Luftraums setzen wollen. Heute schon gelten Sperrzeiten frühmorgens und ab 21 Uhr beziehungsweise ab 20 Uhr an Wochenenden. Die Halle war voll mit Plakaten von Fluglärmgegnern. Der Tenor: «Hier Lärm, dort Ruh, Zürich ist Ausland, nicht mal EU.» Oder schlicht: «Es reicht.»

Nicht so drastisch äusserte sich der Bundestagsabgeordnete Andreas Jung (CDU). Er hielt jedoch fest: «Wir wollen eine gute Nachbarschaft mit der Schweiz, aber auch eine gerechte Verteilung des Fluglärms.» Diese werde mit dem Staatsvertrag und dem neuen Betriebsreglement nicht gewährleistet. Mehrere Landräte äusserten sich ähnlich – stets unter grossem Beifall.

«Es braucht Ergänzungen»

Verkehrsminister Dobrindt liess die Zuhörer zunächst wissen, dass er nicht entscheide, bevor er mit den Betroffenen geredet habe. Mit Blick auf ein Plakat, in dem er darauf hingewiesen wurde, dass er kein Schweizer Bundesrat sei, sagte Dobrindt: «Das stimmt, ich bin deutscher Verkehrsminister – entsprechend setze ich mich für die Interessen Südbadens ein.» Grundsätzlich werde er keinem Konzept zustimmen, das der Region eine Mehrbelastung bringe. Bezüglich des in Berlin auf Eis liegenden Fluglärmabkommens, das von den eidgenössischen Räten bereits ratifiziert wurde, redete Dobrindt Klartext: «Eine Ratifizierung des Staatsvertrags, so wie er jetzt vorliegt, wird es nicht geben.» Bevor er das Geschäft dem Bundestag zur Ratifizierung vorlege, brauche es zwingend völkerrechtlich verbindliche Ergänzungen zu strittigen Punkten. Berlin habe diese in Bern deponiert – nun sei die Schweiz am Zug, etwas Verbindliches vorzulegen.

Strittig sind unter anderem die Ausgestaltung des gekröpften Nordanflugs, der morgens eingesetzt werden soll, und vor allem die Zahl der möglichen Anflüge über Süddeutschland. Auf eine Plafonierung wird in dem Abkommen verzichtet – die Interpretationen der erwarteten Anflüge über Südbaden gingen aber weit auseinander. Deutschland rechnet mit höchstens unwesentlich mehr als jährlich 80 000 Bewegungen, die Schweiz nannte die Zahl von maximal möglichen 110 000 Anflügen. Dobrindt, der das Dossier im Dezember 2013 von seinem Vorgänger Peter Ramsauer (CSU) erbte, sagte in Tiengen, es sei schwer nachvollziehbar, dass nach langen und zähen Verhandlungen solche Diskrepanzen auftreten könnten. Um den Dialog weiterführen zu können, müsse nun die Schweiz auf die an sie adressierten Fragen klare Antworten liefern.

Ostkonzept wird geprüft

Verschiedene Redner sagten danach, dass der Staatsvertrag nicht mehr zu retten sei. Ein Abkommen, das so verschiedene Interpretationen zulasse, sei «hundsliederlich verhandelt», sagte Martin Benz, Bürgermeister von Hohentengen. Er höre gerne, dass Dobrindt die Interessen der Region wahrnehmen wolle – nur könne er das noch nicht erkennen. Tosenden Applaus erntete Benz mit der Aussage, es gebe überhaupt keinen Grund, Lärm in dem Mass, wie der Flughafen Zürich ihn verursache, in einen Nachbarstaat zu exportieren. Andere forderten eine fixe Beschränkung der Landungen über die Schwarzwald-Region. Weniger stark gewichtet die Region offenbar den Vorteil, dass die Sperrzeiten stark ausgebaut werden sollen: Neu gäbe es jeden Tag ab 18 Uhr keine Überflüge mehr. Ein anderes Ärgernis ist für Südbaden das beantragte Betriebsreglement 2014, zu dem die deutsche Bundesregierung die Zustimmung geben muss. Ziel des Flughafens Zürich ist es, das Ostkonzept zu entflechten. Abflüge sollen im südlichen Raum, Anflüge im Nordosten des Airports konzentriert werden. Südbaden moniert, dass auch während der Sperrzeiten alle anfliegenden Flugzeuge von Norden her auf die Piste 28 geführt werden sollen, weil die Reihung der Maschinen an der Grenze zu Deutschland erfolgt. Für den Konstanzer Landrat Frank Hämmerle ist es schlicht eine verkappte Rückkehr zur Nordausrichtung des Flughafens.

Die Schweizer Seite stellt sich auf den Standpunkt, dass die Entflechtung die Sicherheit erhöhe und wegen der Höhe der Flugzeuge keinerlei Mehrbelastung für die Bevölkerung entstehe. Dobrindt sagte in Tiengen, dass genau diese Darstellung der Schweiz gegenwärtig von deutschen Fachleuten geprüft werde. Auch bezüglich der Entflechtung des Ostkonzepts werde er die Interessen Südbadens vollumfänglich wahrnehmen: «Das Ostanflugkonzept darf zu keiner Mehrbelastung der Region führen.» Ein Votant konterte: «Wir brauchen keine Prüfung, wir brauchen ein entspannendes Nein.»

NZZ, 06.03.2015