Flughafen Zürich lässt Lärmopfer selber zahlen (infosperber)

Publiziert von VFSNinfo am
Für Schallschutz müsste der Flughafen über 700 Millionen Franken zahlen, wenn Lärmopfer so gut geschützt wären wie in Berlin. Urs P. Gasche

Im Umkreis des neuen Berliner Flughafens Berlin-Brandenburg werden Einwohner, die vom Fluglärm belästigt werden, besser geschützt als anderswo. Die Hauptstadt Deutschlands hat keine Ambition, über einen interkontinentalen Hub-Flughafen zu verfügen und nimmt Rücksicht auf die Bevölkerung. Zürich dagegen will mit dem Segen des Bundesrats ein internationaler Flugverkehrsknotenpunkt werden. Diesem Wachstumsziel wird alles untergeordnet:

  • die Interessen der Einwohner, die unter den Flugschneisen wohnen oder ihre Büros haben;
  • die Ausrichtung der An- und Abflüge;
  • das Gebührensystem und
  • der Ausbau der Pisten.

Unter den Medien vertritt die NZZ die Wachstumsinteressen am stärksten: «Alle andern Hub-Flughäfen haben oder planen ein Parallelpistensystem, das die Kapazität steigert», warnte die Zeitung kürzlich. Und die jüngste Kritik des Preisüberwachers am Gebührensystem brandmarkt die NZZ als «unqualifiziert», denn es sei richtig, Umsteigepassagiere zu bevorzugen. Ohne Umsteigepassagiere könne man weitere Interkontinentalflüge nicht auslasten.

Auch der Lärmschutz der Bevölkerung muss zurückstehen. Der Flughafen Zürich und der Kanton Zürich als Aktionär des Flughafens wehren sich vehement dagegen, dass der Bundesrat die Lärmschutzverordnung so formuliert, dass die Einwohner vor «lästigem» Lärm geschützt werden, wie es Bundesverfassung und Umweltschutzgesetz vorschreiben. Die Kosten für Lärmschutzmassahmen würden die Wettbewerbsfähigkeit des Flughafens angeblich zu stark gefährden.

Gespräche bei geschlossenen Fenstern dürfen nicht gestört werden

Von der Berliner Lärmschutzverordnung können Schweizer nur träumen: Ein «Planfeststellungsbeschluss» sieht vor, dass An- und Abflüge zwischen morgens 06.00 Uhr und abends 22.00 Uhr bei geschlossenen Fenstern im Innern von Wohnungen und Büros «keine höheren Maximalpegel als 55 Db(A)» verursachen dürfen. Zum Vergleich: Eine normale Sprechstimme hat einen Pegel von rund 50 dB(A), eine gehobene Stimme oder ein Fernseher in Zimmerlautstärke 60 Db(A).

Ein entsprechendes Schallschutzprogramm für rund 33\'000 Wohneinheiten kostet den Berliner Flughafen nach eigenen Angaben etwa 730 Millionen Euro oder 900 Millionen Franken. Das sind durchschnittlich 27\'000 Franken pro Wohnung.

Bisher vergeblich wollte der Flughafen Berlin die rechtlichen Vorgaben so auslegen, dass die 55 Db(A) nur «regelmässig» eingehalten werden müssen, was im verkehrsreichsten Halbjahr etliche Überschreitungen erlaubt hätte. Doch in zweiter Instanz hat jetzt das Oberverwaltungsgericht dem Flughafen klar machen müssen, dass «keine» (höheren Pegel) ein «absolutes» Kriterium und der Begriff «Maximalpegel» ein «Synonym für Höchst- oder Spitzenpegel» sei. Die Mehrkosten seien auch nicht unverhältnismässig, weil «Störungen der Kommunikation» (in Wohnungen und Büros) als «besonderes lästig» empfunden werden und das «Wohnklima merklich verschlechtern». Zudem sei «Rücksicht zu nehmen auf ältere und lärmsensible Menschen».

Das Oberverwaltungsgericht von Berlin-Brandenburg lässt keine Anfechtung (Revision) des Urteils zu. Doch die Kläger verlangen unterdessen vom Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, eine solche Anfechtung des Urteils zuzulassen.

Zürich setzt Einwohner doppelt so viel Lärm aus

Unter der südlichen Flugschneise in Zürich sind über 60’000 Menschen jeden Tag ab 06.00 Uhr äusseren Lärmpegeln von gemessenen 80 bis 90 dB(A) ausgesetzt, was im Innern bei geschlossenen normalen Fenstern Spitzenpegeln von 65 dB(A) entspricht. Diese Lärmspitzen sind mehr als doppelt so laut wie die, welche in Berlin erlaubt sind, und entsprechen dem Lärm eines vorbeifahrenden Autos oder eines Klassenzimmers, bevor die Lehrerin kommt. Werte über 60 dB(A) gelten als Belästigungen und erhebliche Belästigungen.

Eigentlich schützt die Bundesverfassung die Menschen vor «lästigen» Einwirkungen. Darum verbietet das Umweltschutzgesetz nicht nur «schädlichen» Lärm, sondern auch Lärm, der das «Wohlbefinden erheblich stört» und damit «lästig» ist. «Lästig» sei der Lärm dann, hat das Bundesgericht in einem Urteil im Jahr 2000 präzisiert, wenn er «Leistungsfähigkeit und Lebensfreude, Naturgenuss, das Gefühl der Ungestörtheit, das private Leben überhaupt beeinträchtigt».

Sobald die Beeinträchtigung von Fluglärm von einem Viertel aller Lärmbetroffenen als «stark» empfunden wird, sei der Lärm im Sinne des Gesetzes «lästig», beschied das Bundesgericht. Denn Lärmverursacher müssten «auf Personengruppen mit erhöhter Empfindlichkeit» Rücksicht nehmen.

Sobald der Fluglärm in diesem Sinne «lästig» ist, wäre der Flughafen verpflichtet, Schallschutzfenster und andere Lärmschutz-Massnahmen zu zahlen. Dies würde den Flughafen Zürich über 700 Millionen Franken kosten, wenn die gleichen Regeln gelten würden wie in Berlin.

Verordnung macht Gesetz zur Makulatur

Doch im Interesse der Fluglobby erliess der Bundesrat eine Lärmschutzverordnung, die den Durchschnittswert zwischen 6 und 22 Uhr misst. Das hat zur fatalen Folge, dass einige Stunden starker Fluglärm am frühen Morgen oder späten Abend den Tages-Grenzwert nicht erreichen.

Auf die Frage, ob Bundesrat Leuenberger der Meinung sei, dass die «Lärmimmissionen (unter den Flugschneisen) nicht ‚lästig’ im Sinne der Bundesverfassung» seien, und «das Wohlbefinden nicht ‚erheblich stören’ im Sinne des Umweltschutzgesetzes», liess sein Departements-Sekretariat ausrichten: «Massgeblich für die Festlegung der Lärmgrenzwerte ist einzig der Gesundheitsschutz.»

Diese Behauptung widerspricht dem Gesetz, das Grenzwerte nicht nur von (Gesundheits-)Schäden abhängig macht, sondern ausdrücklich auch von «lästigen Einwirkungen» und «gestörtem Wohlbefinden». Auch das Bundesgericht hat schon mehrmals bestätigt, dass keine Gesundheitsgefährdung nachgewiesen werden muss.

Die Konsequenzen einer gesetzeskonformen Lärmschutzverordnung waren dem Departement Leuenbergers klar: «Der Flughafen müsste Schallschutzfenster bezahlen und es könnte sein, dass mehr Betroffene einen Anspruch auf eine Entschädigung hätten.»

Auch die neue Verkehrsministerin Doris Leuthard hat die Lärmschutzverordnung bis heute nicht angetastet und verstösst damit gegen das Umweltschutzgesetz. Dieses schreibt vor, dass beim Lärmschutz wirtschaftliche Interessen keine Rolle spielen dürfen. Es muss keine Interessenabwägung stattfinden. In der Botschaft zum Umweltschutzgesetz hatte der Bundesrat 1979 selber geschrieben, dass die Grenzwerte «unabhängig von der technischen Realisierbarkeit und wirtschaftlichen Tragbarkeit zu bestimmen sind».

Devise lautet: Zeit schinden

Doch die klaren Vorgaben von Verfassung, Gesetz und Bundesgericht haben bisher auch Bundesrätin Leuthard nicht dazu bewogen, die Lärmschutzverordnung anzupassen und das Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2010 zu respektieren. Falls die Bundesrätin es doch noch tun sollte, kommt es für etliche Lärmgeplagte zu spät: Sie haben Lärmschutzfenster und andere Massnahmen zur Schalldämpfung inzwischen auf eigene Kosten realisiert, oder sie haben ihr Haus oder ihre Wohnung verkauft. Die neuen Besitzer gehen leer aus, weil sie beim Kauf mit dem Fluglärm rechnen mussten.

Deshalb lautet die Devise des Flughafens Zürich AG und dessen Aktionären Kanton Zürich und Stadt Zürich: Möglichst viel Zeit schinden.

infosperber, 21.08.2012