Fluglärmstreit: Der Wirtschaft geht die Geduld aus (swissinfo)

Publiziert von VFSNinfo am
Der Streit um den Flughafen Zürich aktiviert kurz vor den Parlamentswahlen und zwei Monate vor den Flughafen-Abstimmungen Wirtschaft und Politik: Die Wirtschaft, auch die süddeutsche, bangt um ihren Flughafen. Und die Politiker um ihre Glaubwürdigkeit.

Ende November wird im Kanton Zürich ein weiteres Mal über die Zukunft des Flughafens Zürich abgestimmt. Dabei geht es um die Verhinderung des Neu- oder Ausbaus von Pisten ("Behördeninitiative") respektive den Gegenvorschlag des "Vereins Flugschneise Süd – Nein", der noch weitergehende Einschränkungen fordert.

Im Vorfeld dieses Urnengangs haben sich Anfang Oktober 18 Wirtschaftsverbände aus Südbaden und der Nordschweiz zu einem Netzwerk "Wirtschaft am Hochrhein" zusammengeschlossen. Die Wirtschaftsverbände drängen die Verkehrsminister in Berlin und Bern öffentlich dazu, endlich Lösungen im Flughafenstreit zu finden.

Auch in der Politik haben sich, mitten in der heissen Schweizer Parlaments-Wahlkampfphase, 20 Parlamentarier geeint von links bis rechts zu einem "Arbeitskreis Flugverkehr" (AFV) zusammengefunden, um den Konflikt mit Deutschland beizulegen.

Der Urnengang, der einen Monat nach den Schweizer Parlamentswahlen stattfindet, ist formal zwar auf den Kanton beschränkt, faktisch aber von gesamtschweizerischer Bedeutung: Zum dritten Mal in vier Jahren entscheiden Stimmende aus der Region über die künftige nationale Rolle des Flughafens als Verkehrsinfrastruktur.

Folgen für Verhandlungsstärke

Der binnenschweizerische Zwist hinter dieser Abstimmung ist eine Folge des Streits mit Deutschland. 2003 hatte die deutsche Seite einseitig die Anzahl der Überflüge über ihrem Territorium begrenzt und nachts An- und Abflüge ganz verboten. Damit reichte sie die heisse Lärmkartoffel an die Schweizer Gemeinden und Kantone weiter.

"Falls kein doppeltes Nein zustande kommt und der Urnengang somit negativ für den Flughafen ausfällt, dürfte dies die Position der süddeutschen Gemeinden eher beflügeln", sagt Andreas Wittmer, Geschäftsführer des Center for Aviation Competence, einem Luftfahrts-Institut der Universität St. Gallen. "Das dürfte dann auch negative Auswirkungen auf die Verhandlungsstärke der Schweizer Delegation gegenüber Berlin haben."

Unter diesem gleichzeitig länderübergreifenden und lokalen Streit leidet der interkontinentale Flughafen als Tor zur Welt mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten. "Seien wir doch ehrlich: Unser gegenwärtiger Wohlstand wäre ohne diesen Flughafen gar nicht möglich", sagt Wittmer gegenüber swissinfo.ch.

Zürich-Kloten ist nicht nur personentransportmässig zentral für die Schweiz, sondern spielt auch im Güterbereich eine wichtige Rolle: Ein Grossteil der hochwertigen Ausfuhr wie teure Uhren etc. der Exportnation Schweiz wird über den Luftweg abgewickelt.

Einseitiges Anflugregime könnte bleiben

Langsam verlieren die nordschweizerische und süddeutsche Wirtschaft gemeinsam die Geduld: "Wir erwarten, dass die 2003 einseitig von Deutschland durchgesetzte Regelung endgültig fixiert wird, wenn die eingesetzte Arbeitsgruppe bis Ende 2011 keine Lösungsvorschläge bringt", sagt Claudius Marx von der Industrie- und Handelskammer Bodensee-Hochrhein (IHK) gegenüber swissinfo.ch.

Der IHK-Hauptgeschäftsführer fragt sich, warum "in dieser Arbeitsgruppe kein einziger Unternehmer sitzt". Immerhin betreut die IHK 35\'000 Unternehmen mit 200\'000 Beschäftigten.

Einen der Gründe für den festgefahrenen Fluglärmstreit ortet Marx in den  Ähnlichkeiten der beiden Länder: "Flughäfen haben hier wie dort Millionen von Kunden, aber keine Freunde. Die Verhinderungs-Politik der Gegner addiert sich beidseits des Rheins. So wie ihre Anliegen in Berlin Gewicht haben, so können auch in der Schweiz betroffene Gemeinden über Referenden und Initiativen Druck aufsetzen."
 
Andererseits gebe es grosse Unterschiede, wie der Streit wahrgenommen und entschieden werde. "Für Berlin dürfte der Streit um Zürich-Kloten einfach ein weiterer Zankapfel in einer ganzen Reihe umstrittener Flughäfen, Bahnhöfe etc. sein", sagt Marx.

Politischer Arbeitskreis Flugverkehr

Neben der Wirtschaft beginnen auch gewisse Politiker, sich Sorgen um den gemeinsamen Wirtschaftsraum Nordschweiz/Süddeutschland zu machen.

Die 20 Parlamentarier aus vier Flughafenkantonen und verschiedenen Parteien  (von der SVP über die Mitte bis zu den Sozialdemokraten), die dem "Arbeitskreis Flugverkehr" (AFV) angehören, lehnen die bestehende einseitige Verordnung gegen die Schweiz ab. Doch soll "die verkachelte Situation mit vernünftiger und konstruktiver Diskussion aufgeweicht werden".

Der AFV kritisiert, dass "die Nordschweiz und Baden-Württemberg heute zwar als Wirtschaftsräume eng kooperieren, es aber an gegenseitigem Verständnis dafür mangelt".

Dennoch, weiss Wittmer aus Erfahrung, dass zumindest "die Zürcher Politiker keine Lust haben, ihre Entscheidungsmacht in Sachen Flughafen an den Bund weiter zu geben". Doch die Konsequenzen daraus spürt die Eidgenossenschaft. Denn sie ist es ja, die aufgrund kantonal-zürcherischer Entscheide mit Berlin verhandeln muss.

Anachronismus oder Huhn-Ei-Problem?

Der ehemalige Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger findet es gegenüber dem Zürcher Tages-Anzeiger einen "Anachronismus, dass ein nationaler Flughafen durch einen Kanton allein bestimmt wird".

Andere nationale Infrastrukturen (Bahn, Nationalstrassen) unterstünden nationalem und nicht kantonalem Recht.

Es bräuchte aber eine Verfassungsänderung, damit künftig das gesamte Schweizer Volk über Flughafenfragen abstimmen könnte.

Laut Tages-Anzeiger gefällt Leuenbergers Idee den Zürcher Politikern überhaupt nicht: Der Kanton sei Flughafen-Miteigentümer und es komme nicht in Frage, das Mitsprachrecht der Zürcher Bevölkerung zu beschneiden, wird etwa Christoph Blocher (Schweizerische Volkspartei) zitiert.

Der Freisinnige Felix Gutzwiller kehrt gar den Spiess um: Der Bundesrat solle "in der Luftfahrtspolitik zuerst einmal seine Aufgabe wahrnehmen und die Verhandlungen mit Deutschland zu einem guten Ende bringen".

Alexander Kuenzle, swissinfo.ch, 15.10.2011