Der Forderungskatalog des grün-roten Stuttgart (NZZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Harte Bedingungen für den Flughafen Zürich und die Atomindustrie

Das Programm der neuen Regierung in Baden-Württemberg steht. Sie will in der Schweiz mehr mitreden. Gegengeschäfte bietet sie hingegen kaum an.

Fabian Fellmann

Als grüner Hardliner gilt Winfried Kretschmann nicht. Doch der Vertrag, den der designierte grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg diese Woche mit seinem Koalitionspartner SPD abgeschlossen hat, spricht eine andere Sprache, zumindest gegenüber dem Nachbarland Schweiz. Er enthält klare Forderungen:

  • Grenzen für den Flughafen: «Wir engagieren uns im Interesse der südbadischen Grenzregion für eine deutliche Beschränkung der Flugverkehrsbelastung durch den Züricher Flughafen, wir unterstützen die in der festgeschriebenen Positionen und sind für die uneingeschränkte Beibehaltung des Nachtflugverbots», steht im Koalitionsvertrag. Die Erklärung von 2009 will unter anderem die Anzahl Anflüge über deutsches Gebiet auf 80\'000 begrenzen und die Flugverbote am Morgen und Abend beibehalten, was einer Verschärfung der heutigen Einschränkungen gleichkommt. Die Grenze von 80\'000 stand sogar explizit im Koalitionsvertrag und wurde erst in letzter Minute gestrichen (siehe Interview).
  • Mitreden beim Endlager: Die Schweiz prüft mehrere Standorte in Grenznähe, um nukleare Abfälle zu lagern. Der Koalitionsvertrag verlangt mehr Mitsprache: «Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Schweiz die Interessen und Beteiligungsrechte der deutschen Grenzregion am Planungsprozess ihres atomaren Tiefenlagers in einem Abstand von 30 Kilometern vom Endlagerstandort gewährleistet.»
  • Kritik an Kernkraftwerken: Die deutschen Standards der Stresstests für Kernkraftwerke sollen auch für grenznahe Anlagen in der Schweiz und Frankreich massgebend sein.
  • In zwei Punkten macht die grün-rote Regierung im Koalitionsvertrag kleine Schritte auf die Schweiz zu:
  • Einsatz für Neat-Zubringer: Die neue Regierung will den Güterverkehr auf die Schiene verlagern. Wichtig ist für die Schweiz vor allem der Ausbau der Rheintalstrecke als Zubringer zur Neat. Dieser wird wegen Einsprachen nicht wie vereinbart 2019 fertig sein. Aber der Koalitionsvertrag hält explizit fest, dass der Ausbau der Rheintalstrecke «hohe Priorität» geniesse.
  • Mehr Kooperation: «Wir wollen die grenzüberschreitende Kooperation insbesondere auch mit unseren Nachbarregionen in der Schweiz, in Österreich und in Frankreich stärken», steht im Vertrag.

Wenig mehr als ein Trostpflaster

Das Bekenntnis zum Neat-Zubringer ist für den Zürcher CVP-Nationalrat Urs Hany wenig mehr als ein Trostpflästerchen. «Ich bezweifle, dass die Regierung von Baden-Württemberg den Bau wesentlich beschleunigen kann», sagt er als Mitglied der Verkehrskommission. «Insgesamt bin ich schockiert, am meisten über die Aussagen zum Flughafen.» Eine Aufweichung der heutigen Einschränkungen schliesse der Koalitionsvertrag aus. «Auch die stärkere Mitsprache bei Atomendlagern wird für uns zum Problem. Wir müssen davon ausgehen, dass Baden-Württemberg einfach Bedingungen diktieren will», sagt Hany.

Hoffen auf Doris Leuthard

«Die Gespräche mit Deutschland werden sicher nicht einfacher», sagt auch Lukas Briner. Er ist Verwaltungsrat der Zürcher Flughafenbetreiberin, will sich aber nur in seiner Funktion als Direktor der Zürcher Handelskammer äussern. «Verbesserungen gegenüber den heutigen Bedingungen werden schwierig zu erreichen sein», sagt Briner. Er hofft, dass Doris Leuthard als Verkehrsministerin neuen Schwung in die Gespräche bringt. Konkrete Anzeichen dafür gibt es bis jetzt nicht. Das jüngste Treffen der schweizerisch-deutschen Arbeitsgruppe für die Flughafen-Thematik fand im März statt, vor dem Wahlsieg der Grünen. «Bei den Gesprächen hat die deutsche Seite bisher lediglich die bekannten Positionen wiederholt», heisst es beim Bundesamt für Zivilluftfahrt. «Von Schweizer Seite wünschten wir uns mehr Flexibilität und eine offene Auseinandersetzung mit unseren Vorschlägen.»

Ruedi Lais, SP-Flughafenpolitiker im Zürcher Kantonsparlament, sieht dafür durchaus Spielraum – unter anderem, weil der Koalitionsvertrag keine konkrete Begrenzung der Anzahl Flüge nennt: «Die Koalition hält sich Spielraum offen, um Verhandlungen nicht zu verhindern. Daran habe ich Freude.» Sein Fazit: «Wir müssen kreativer werden und die Zusammenarbeit nicht nur dort suchen, wo es uns schmerzt.»

NZZ, 01.05.2011


«Da gibt es eine relativ harte Passage»

Winfried Hermann, wahrscheinlicher Verkehrsminister, zum Thema Schweiz im Koalitionsvertrag

NZZ am Sonntag: Der grün-rote Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg steht, die Grünen erhalten unter anderem das Verkehrs- und das Energieministerium. Fordern Sie nun von der Schweiz die Abschaltung des AKW Beznau I, wie es Grüne schon im Bundestag gemacht haben?
Winfried Hermann: Wir Grünen bleiben bei dieser Forderung. Aber im Koalitionsvertrag steht dazu nichts.

Wie stellen sich die Grünen zu einem Schweizer Endlager für nukleare Abfälle in Grenznähe?
Die Schweiz muss alle Bewohner in einem Umkreis von 30 Kilometern um ein mögliches Endlager bei der Entscheidung einbeziehen – und zwar die deutschen Bürger gleich wie die Schweizer Bürger. Das gilt für alle möglichen Standorte in Grenznähe, von Südranden über das Zürcher Weinland bis zum Bözberg.

Wie soll das funktionieren: Wollen Sie deutsche Gemeinden abstimmen lassen, während in der Schweiz nur eine eidgenössische Abstimmung stattfindet?
Volksabstimmungen wie in der Schweiz gibt es in Baden-Württemberg nicht. Detailliert haben wir das im Koalitionsvertrag nicht festgehalten. Wichtig ist uns eine Ausweitung der heutigen Beteiligung, damit deutsche Bürger noch mehr angehört werden und ihre Einwände vorbringen können.

Die Stuttgarter Nachrichten bezeichnen Sie als Vertreter der Parteilinken. Sind Sie ein harter Brocken bei den Verhandlungen über den Flughafen Zürich?
Wer mich kennt, wird mich nicht als harten Brocken bezeichnen. Ob als Minister oder als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Verkehr: Ich bin fähig, die Sichtweise meines Gesprächspartners anzuerkennen. Politik ist immer eine Ausbalancierung verschiedener Interessen, und gute Nachbarschaft ist dabei wichtig. Im Bezug auf den Zürcher Flughafen gibt es aber eine relativ harte Passage im Koalitionsvertrag, die von den Kollegen in der Region Südbaden angemahnt wurde: Wir wollen an der heutigen restriktiven Regelung festhalten, jedoch nicht noch weiter gehen.

Allerdings nennt der Koalitionsvertrag keine Zahl der Flugbewegungen. In den Gesprächen forderte die deutsche Seite bisher immer eine konkrete Zahl.
Im Entwurf enthielt auch der Koalitionsvertrag eine Grenze von 80\'000 Flugbewegungen. Bei der Endredaktion wurden aber fast alle Zahlen wieder herausgestrichen – weil man keinen Zahlensalat anrichten und sich eine gewisse Flexibilität bewahren will. Das gilt aber für den ganzen Vertrag, nicht spezifisch für die Passage zum Flughafen Zürich.

Warum ist die Anzahl Flüge für Deutschland derart wichtig? Wesentlich ist doch der Lärm.
Die konkrete Zahl symbolisiert für die Bevölkerung die erreichten Einschränkungen. Ich persönlich habe geholfen, sie durchzusetzen. Natürlich weiss ich inzwischen auch, dass die Belastung nicht nur von der Anzahl Flüge abhängt, sondern davon, wie laut die Flugzeuge sind. Insofern finde ich es gut, dass unser Koalitionsvertrag keine konkrete Zahl nennt. Er ist das Beste, was der Schweiz passieren konnte. Mir persönlich war wichtig, den Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg nicht so zu formulieren, dass die Schweizer nicht mehr mit uns reden wollen. Ich wünsche mir vielmehr, dass sich Vertreter aus Deutschland und der Schweiz einmal pro Jahr treffen. Wir haben viele Probleme, für die wir in den nächsten Jahren konstruktive Lösungen suchen müssen.

Bedeutet dies, dass Deutschland am Ende gar auf die Schweizer Position eingeht und die Belastung mit Lärmgrenzen definiert wird?
So weit würde ich nicht gehen. Aber der Koalitionsvertrag verhindert Gespräche mit der Schweiz zumindest nicht. Und klar ist natürlich, dass unsere Regierung die Anliegen der Südbadener Bevölkerung und nicht jene des Zürcher Flughafens vertreten wird.

In der Schweiz gibt es Hoffnungen, dass eine grün-rote Regierung in Baden-Württemberg von der schwarz-gelben Koalition in Berlin nicht voll unterstützt wird und so mehr Spielraum entsteht.
Die deutsche Seite wird sich in dieser Frage nicht teilen lassen. Ob rot-grüne oder schwarz-gelbe Landesregierung spielt hier keine Rolle. Im Gegenteil: Die CDU-Politiker in Südbaden spielen sich als die grössten Kämpfer gegen den Flugverkehr auf, die Grünen sind eher zur Diskussion bereit.

Sie haben im März den Neat-Gotthardtunnel besichtigt. Mit wie viel Verspätung werden die Zufahrtsstrecken im Rheintal gebaut?
Aus Schweizer Sicht ist es natürlich ärgerlich, dass wir in Deutschland weit hinter den Plänen herhinken. Ich kritisiere auch, dass wir seit 20 Jahren nicht vorankommen, weil das Geld immer wieder in andere Projekte gesteckt wurde. Bisher wurde ein Drittel der Zufahrtsstrecken gebaut, für die anderen zwei Drittel fehlen uns mindestens 4 Milliarden Euro.

Tut Ihre Regierung jetzt was?
Gemäss Koalitionsvertrag will die neue Landesregierung den Ausbau der Bahninfrastruktur im Rheintal ausdrücklich mit hoher Priorität vorantreiben. Wir wollen die Güter auf die Schiene bringen, und wir werden dieses Ziel mit viel mehr Leidenschaft verfolgen als die schwarz-gelbe Regierung vor uns. Wir sind der Meinung, dass wir im Konsens mit den betroffenen Gemeinden eine neue Linienführung für die Gleise finden müssen, und sind auch bereit, finanzielle Beiträge an einen besseren Lärmschutz zu leisten.

2019 sollten die Zufahrten bereit sein, nun wollen Sie eine neue Linienführung. Wie lange wird das dauern?
Auf jeden Fall geht es schneller, als die alte, bekämpfte Trasse auf dem Gerichtsweg durchzudrücken. Realistischerweise wird die neue Rheintallinie aber nicht vor 2025 in Betrieb genommen werden. Das hängt natürlich wesentlich davon ab, wer in Berlin die Regierung stellt. Falls nach der jetzigen eine neue Bundesregierung den Schwerpunkt auf den Ausbau der Güterbahn setzen sollte, könnte sich vieles bewegen. Interview: Fabian Fellmann

NZZ, 01.05.2011


siehe auch:
STUTTGART ATTACKIERT KLOTEN (SoZ)
Grüne Turbulenzen um Anflüge (Südkurier)
Bazl: «Wir sind vorsichtig optimistisch» (TA) (Südkurier)