«Fliegen ist lebensbedrohlich» (TA)

Publiziert von VFSNinfo am
Daniel Knecht aus Uster machte die Untersuchung von Flugzeugabstürzen zu seinem Beruf – und fliegt selbst aus Leidenschaft.

Herr Knecht, Sie sind Untersuchungsleiter für Flugunfälle. Studiert haben Sie aber unter anderem Theologie.
Das stimmt. Fliegerisch bin ich von der Luftwaffe zum Kampfpiloten ausgebildet worden und leistete dann Dienst als Milizpilot. Später bildete ich mich zum Linienpiloten weiter. Daneben habe ich studiert, die theologischen Grundlagenfächer und interdisziplinäre Naturwissenschaften.

Ein Kampfpilot studiert Theologie?
Das Studium beinhaltet die alten Sprachen Griechisch, Hebräisch und Latein. Ich hatte das Bedürfnis, mir selbst ein Bild von der Welt zu machen. Fragen wie «Gibt es einen Gott und wenn ja, wie sieht er aus?» beschäftigten mich. Ich habe in dieser Phase auch geprüft, ob mir ein sozialer Beruf liegt. Aber ich kann keine Menschen leiden sehen.

Und Sie untersuchen Unfälle, in denen es Tote und Verletzte gibt?
Wir haben mit Menschen zu tun, die jemanden verloren haben, ja. Da hilft mir die Ausbildung im seelsorgerischen Bereich enorm. In einem Spital, wo Patienten leiden, kann ich nur schlecht die nötige Distanz wahren. Hingegen fällt mir die Konfrontation mit dem Tod leichter.

Piloten möchten am liebsten nichts mit Abstürzen zu tun haben. Sie haben diese als Pilot zu Ihrem Beruf gemacht. Warum?
Es ist eine Bereicherung. Als Linienpilot bin ich dankbar, dass ich Flugunfälle untersuchen darf. Ich kann so aus Fehlern von andern lernen. Dass Menschen vor Bedrohlichem wegschauen, ist nicht nur Piloten eigen. Menschen blenden Gefahren oft aus. Ich bin überzeugt, dass man Sicherheit nur erhöhen kann, wenn man der Gefahr in die Augen schaut, ohne sich dabei schockieren zu lassen.

Und die Unfallstellen mit Toten?
Es gehört zur Professionalität, dass man diese Szenen für den Moment beiseite lassen kann. Ich denke aber trotzdem darüber nach. Es kommt wohl auf den Umgang des Einzelnen mit dem Tod an, wie nahe es einem geht. Als junger Militärpilot musste ich häufig an Beerdigungen von verunglückten Kameraden. Es fiel mir auf, dass Menschen dann nicht um den Verunglückten trauerten, sondern oft um sich selbst. «Das hätte mir auch passieren können», realisieren sie plötzlich. Ich habe das für mich geklärt: Der Tod ist Teil meines Lebens, der mir letztlich jeden Moment passieren kann. Der Tod beunruhigt mich nicht. Das hilft mir auf der Unfallstelle.

Gibt es Bilder, die Sie «verfolgen»?
Nein. Aber es wäre ein normaler Prozess, dass der Körper auf Tod und Verwüstung reagiert. Man weiss aus der Traumaforschung, dass der Mensch nach solchen Erlebnissen zum Beispiel Halluzinationen hat. Sie verschwinden nach drei bis vier Wochen. Tun sie das nicht, braucht man psychologische Hilfe. In unserem Büro für Flugunfalluntersuchungen redet man offen über diese Probleme. Ich hatte bisher wenige, kann mich aber sehr gut an meine erste grössere Unfallstelle erinnern.

Wo war das?
Es war der Crossair-Absturz im Jahr 2000 bei Nassenwil. Es geschah um 18 Uhr und ich war bis gegen 2 Uhr morgens auf der Unfallstelle. In dieser Nacht schlief ich gut. Als ich erwachte, merkte ich aber, dass ich nass geschwitzt war. Das zeigte mir, dass während des Schlafs etwas weitergearbeitet hatte. Ich erlebe aber immer wieder, dass mich der Geruch von verbranntem Menschenfleisch, den man auf Absturzstellen riecht, verfolgt. Ich kann dann während zweier, dreier Wochen kein gegrilltes Fleisch essen, weil ich den Geruch in der Nase habe.

Gibt es einen weiteren Fall, der für Sie einen speziellen Stellenwert hat?
Stellenwert ist das falsche Wort. Mir kommen eine Reihe Fälle in den Sinn. Einer meiner ersten Fälle war der Absturz von Swissair 111 in Kanada. Hier ist besonders die gute Zusammenarbeit mit den kanadischen Behörden zu erwähnen. Dann Nassenwil, Bassersdorf und Überlingen. Fälle, die verschiedenste Probleme der Fliegerei in der Schweiz aufgezeigt haben. Aber einer der wohl bleibendsten Fälle ist der Absturz eines Schweizer Kleinflugzeugs in Marokko.

Die Schweizer Behörde hat diesen Fall im Ausland untersucht?
Ja. Wir wurden um Hilfe gebeten. Vier junge Schweizer waren im Grossen Atlas verunfallt. Niemand kümmerte sich dort um die Hinterbliebenen. Wir wussten nicht, wo das Wrack lag. Es gab keine Karten. Wir wussten aber, dass einer der Hinterbliebenen genau die gleiche Strecke tags zuvor geflogen war und viele Fotos gemacht hatte. Nach langen Gesprächen habe ich den Mann gefragt, ob er sich zutrauen würde, die Strecke anhand der gemachten Bilder erneut zu finden und uns so zum Wrack zu führen. Er stimmte zu, und wir flogen gemeinsam nach Marokko.

Fanden Sie das Flugzeug?
Ja. Es war unglaublich. Der Mann war ein eher verschwiegener Bauernsohn aus dem Emmental, der aber blitzgescheit war. In diesem Gebirge sah für mich alles gleich aus und trotzdem fand er das Wrack auf Anhieb. Es liegt übrigens heute noch dort. Die meisten Untersuchungen brennen sich in irgendeiner Art in mein Gedächtnis.

Ist die Luftfahrt heute sicher?
Die Bestrebungen in Sachen Sicherheit laufen in die richtige Richtung. Die Fliegerei ist und bleibt aber ein Hochrisiko-Geschäft und das Fliegen per se ist lebensbedrohlich. So abstrus es klingen mag: Der Mensch musste erst lernen, Flugunfälle zu überleben, um daraus Lehren zu ziehen. Die ersten Pioniere kamen bei ihren Abstürzen ums Leben und konnten nicht von ihren Problemen berichten. Die Fehlerkultur in der Fliegerei ist ausgeprägt, und es kommt nicht von ungefähr, dass man in anderen Bereichen, zum Beispiel der Medizin, diese Kultur übernimmt. Die Statistiken aber zeigen, dass im Vergleich zu anderen Transportmitteln Fliegen eben gefährlich bleibt.

Die Statistiken werden aber ins Feld geführt, um die Sicherheit zu untermauern.
Sie müssen sich die Zeiteinheiten ansehen. Wenn sie die gleiche Zeit in einem Linienflugzeug wie in Ihrem Auto verbringen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in der Luft einem Unfall zum Opfer fallen, um ein Zehnfaches grösser. In einem Privatflugzeug etwa um das Tausendfache. Man hört oft den Satz, das Gefährlichste an der Fliegerei sei der Weg zum Flugplatz. Dieser Satz ist gut gemeint, aber unehrlich und falsch.

Tages-Anzeiger, 19.03.2011


Kommentar VFSN:
Wenn Fliegen schon für den Passagier, der sich nur hin und wieder in ein Flugzeug setzt, lebensbedrohlich ist, wie lebensbedrohlich ist es dann in einer Flugschneise zu wohnen wo man andauernd überflogen wird?