Der gefühlte Lärm (DasParlament)

Publiziert von VFSNinfo am
FLUGHAFEN ZÜRICH

Grenznahe Südbadener leiden unter Landeanflügen. Jetzt wird gemeinsam gemessen

Pascal Couchepin sagt es so: "Wir wollen zurück zu den Wurzeln." Mit diesen Worten beschreibt der Schweizer Bundespräsident einen erstaunlichen Vorgang:   Seit Jahren zoffen sich Deutsche und Eidgenossen wegen der jährlich 105.000 Anflüge auf den Flughafen Zürich-Kloten über die südbadische Hochrheinregion und wegen des damit verbundenen Lärms. Nun wollen erstmals Experten beider Seiten den Dezibelpegel messen. Beschlossen haben dies Couchepin und Angela Merkel Ende April in Bern. Es existiere bislang "keine gemeinsame Analyse der Gesamtbelastung", so die Kanzlerin. Zürichs Stadtpräsident Elmar Ledergerber: "Was nie klar wurde, ist das Ausmaß der Lärmbelästigung und der betroffenen Personen."

Dezibel-Fixierung

Die Erhebung von Dezibeldaten ist deshalb so heikel, weil sie Teil des hitzigen Konflikts um den Airport Kloten mit seinen jährlich 20 Millionen Passagieren sowie 320\'.000 Starts und Landungen ist. Die Schweizer reiben den badischen Freunden im Südschwarzwald und am Hochrhein gern eine brisante Zahl unter die Nase: In der Einflugschneise im deutschen Hohentengen direkt an der Grenze litten lediglich 740 Leute unter einem Pegel von mehr als 50 Dezibel, im Züricher Umfeld seien es hingegen über 200.000. Eine solche Dezibel-Fixierung will der CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Dörflinger aus Waldshut-Tiengen indes nicht akzeptieren: Man müsse diese Zahlen im Zusammenhang mit dem sonstigen "Lärmteppich" sehen. Will heißen: In einer eher ruhigen ländlichen Region nervt Fluglärm stärker als in einer ohnehin lauten Großstadt. Dörflinger spricht von "gefühltem Lärm". Nach Ansicht des Waldshuter Landrats Tilman Bollacher sind nicht 740 Personen, sondern Tausende, wenn nicht Zehntausende betroffen. Dörflinger verlangt, die Daten der Messungen, die neuen Zündstoff provozieren dürften, müssten "in absehbarer Zeit" vorliegen. Auch Merkel betont, es dürfe nicht "ewig viel Zeit" verstreichen, bis eine Lösung gefunden wird. Die Kanzlerin war vor ihrer Reise nach Bern von regionalen Bundestagsabgeordneten "gebrieft" worden, wie Dörflinger erzählt. Nach der Erhebung der Dezibeldaten wollen die Schweizer einen Vorschlag zur Entschärfung des Problems unterbreiten. Das hatten die Eidgenossen bereits 2006 angekündigt - allerdings folgenlos. Dörflinger hofft, dass Merkels Visite "Bewegung in die verfahrene Lage bringt". Der Konflikt dreht sich seit Jahren im Kreis. Zahllos sind die Demonstrationen von Bürgerinitiativen, Petitionen und Resolutionen, Verhandlungen zwischen Verkehrsministern, Expertentreffen, Debatten in Gemeinderäten, Kreistagen, Landtagen, Kantonsräten, Runde Tische mit Deutschen und Schweizern, die anberaumt wurden und dann wieder platzten. 2005 hat der Bundestag eine Verringerung des Fluglärms in Südbaden gefordert. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Gescheiterter Staatsvertrag

Einmal schien ein Kompromiss zum Greifen nah: 2001 handelten der Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger und sein deutscher Kollege Kurt Bodewig (SPD) einen Staatsvertrag aus, der die Zahl der Landeanflüge über den deutschen Hochrhein auf jährlich 100.000 beschränkt und ein Nachtflugverbot dekretiert hätte. Das Abkommen scheiterte 2003 in Bern im Nationalrat, dem Bundesparlament, und im Ständerat, der Vertretung der Kantone: Aus deren Sicht hätte diese Begrenzung die Wachstumsaussichten für Kloten gefährdet, wo Planungen bis zu 450\'000 Starts und Landungen im Jahr reichen. Auch im Raum Waldshut opponierte man gegen die als zu hoch empfundene Zahl von 100.000 Flügen. Nach dem Fiasko von 2003 verhängte Deutschland einseitig Reglementierungen: Seither dürfen jährlich nur 105.000 Maschinen von Norden her nach Zürich donnern, und dies lediglich zwischen sieben und 21 Uhr sowie sonntags zwischen neun und 20 Uhr. Diese Regelung führte zu einer gewissen Entlastung. Gleichwohl findet Bollacher die Zahl von 105.000 Flügen "unerträglich". Die Südbadener wollen jährlich nicht mehr als 80.000 Landeanflüge über ihre Köpfe hinnehmen. Das würde den Züricher Airport hart treffen: Dort könne man "zumachen", wenn es zu weiteren Begrenzungen der Flugbewegungen kommen sollte, warnt Christoph Franz, Chef der Fluggesellschaft Swiss. Nun könnten die Klotener Manager ja mehr Landeanflüge über Schweizer Gebiet abwickeln, über das jetzt schon alle Starts erfolgen. Doch eine solche Alternative, die seit den deutschen Beschränkungen in gewissem Maße bereits praktiziert wird, hat einen Haken: Die Züricher Bevölkerung protestiert gegen die damit verbundene Dezibelbelastung.

Charmeoffensiven

Wie soll der Lärm "gerecht" verteilt werden? Die Antwort hat mit der Frage zu tun: Ist Kloten eher ein Schweizer oder ein deutscher Airport? Rita Fuhrer, Präsidentin des Züricher Kantonsrats, erläutert spitzfindig, 70 Prozent des Flugverkehrs stammten von der Lufthansa, deren Tochtergesellschaft Swiss und Air Berlin. Zürichs Stadtpräsident Ledergerber meint, Kloten sei für deutsche Geschäftsleute und Touristen eine "ganz wichtige Drehscheibe". Die Badener hingegen sehen in dem Flughafen eine rein Schweizer Angelegenheit. Dessen Lasten könne man nicht einfach nach Deutschland exportieren, sagt Bollacher. Immerhin scheint seit Merkels Besuch eine "Paketlösung" vom Tisch zu sein. Mehrfach hatten eidgenössische Politiker Charmeoffensiven gestartet: Bei einem Entgegenkommen in Sachen Fluglärm könne vielleicht Schweizer Geld in den Ausbau deutscher Autobahnen und Bahnstrecken in Grenznähe fließen. Solche Tauschgeschäfte waren in Südbaden stets zurückgewiesen worden. Das sei "kein weiterführender Weg", meint auch die Kanzlerin.

KOMPAKT

  • Lage Ein Staatsvertrag zwischen Berlin und Bern zur Beilegung des Fluglärm-Streits ist 2003 gescheitert. Danach hat Deutschland einseitig verfügt, dass jährlich nur 105.000 Flugzeuge Zürich über den deutschen Hochrhein anfliegen dürfen. Zudem gilt ein Nachtflugverbot.
  • Forderung Die südbadischen Regionalpolitiker wollen die Zahl der Flüge auf 80.000 beschränken, was die Schweiz bislang ablehnt.
  • Perspektive Experten aus beiden Ländern sollen nun erstmals gemeinsam die Lärmbelastung messen. Danach will Bern einen Lösungsvorschlag unterbreiten. Aus Schweizer Sicht leiden nicht einmal tausend Deutsche unter mehr als 50 Dezibel.

DasParlament, 26.05.2008