Skyguide meldet mehr Zwischenfälle (NZZaS)

Publiziert von VFSNinfo am

Crash von Überlingen führt in Europa zu einer neuen Sicherheitskultur im Luftverkehr

Die Zahl der bekannten Fastzusammenstösse im Schweizer Luftraum ist markant gestiegen. Das Fliegen sei aber nicht weniger sicher geworden, sondern die Meldekultur habe sich verbessert, sagen Experten.

Die Zahlen scheinen erschreckend: 2004 wurden in der Schweiz 77 Airproxes gemeldet. Von einem Airprox spricht man, wenn zwei Flugzeuge den Mindestabstand von 9 Kilometer horizontal, 300 Meter vertikal oder 5,5 Kilometer im Landeanflug unterschreiten. 1998 lag die Zahl der gefährlichen Annäherungen noch bei 20 und ist seither markant gestiegen (siehe Grafik). Dass die Zwischenfälle mit hohem Kollisionsrisiko zwischen 2003 und 2004 von 25 auf 16 abgenommen haben, ist auch nicht vertrauenerweckend. In Deutschland wurden nur drei Airproxes dieser Kategorie und in Grossbritannien gar nur einer registriert.

1180 Zwischenfälle

Müssen Passagiere über der Schweiz also vermehrt mit einem Crash rechnen? Nein, meint Erik Merckx, Head of  Safety Enhancement Business bei Eurocontrol in Brüssel: «Ich führe diese Zahlen darauf zurück, dass in der Schweiz die Meldekultur besonders gut entwickelt ist.» Dies begrüsst man bei Eurocontrol, der Organisation für die europäische Flugsicherung: «Nur aus Fehlern, die von Piloten, Flugsicherung und Fluggesellschaften gemeldet werden, können Behörden und Beteiligte lernen und ihre Schlüsse ziehen.» Aufgrund der Statistiken verschiedener Länder stellt Merckx fest, dass seit kurzem insgesamt mehr, aber weniger gravierende Airproxes zur Anzeige kommen.

Bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide baut man seit 2001 ein Sicherheitsmanagement auf, für das heute 22 Leute tätig sind. Im Jahr 2004 wurden ihnen 1180 grosse und kleine Zwischenfälle gemeldet, vom Fastzusammenstoss bis zu abgefahrenen Reifen eines Flugzeuges. Rund 90 Prozent davon werden ans Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) weitergeleitet, das dann die daraus folgenden Sicherheitsvorschriften für alle Beteiligten erlässt. Die Gründe für Airproxes liegen nicht immer bei der Flugsicherung, sondern können bei allen Akteuren der Luftfahrt liegen.

Skyguide-Chef Alain Rossier erklärt im Rückblick, dass es nicht einfach war, die neue Philosophie durchzusetzen: «Im normalen Leben wird jeder Fehler bestraft. Wir dagegen wollen, dass unsere Fluglotsen jede Unkorrektheit melden. Diese Kultur des Vertrauens mussten wir erst aufbauen.» Um Vertrauen zu schaffen, können die  sogenannten Safety Improvement Reports vertraulich verfasst werden. Trotz dieser Möglichkeit werden rund 95 Prozent aller Berichte vom Meldenden mit Namen gezeichnet. Der Crash von Überlingen vom 1. Juli 2002 bedeutete für das Sicherheitsmanagement einen Rückschlag. «Wenn ein solcher Unfall geschieht, sucht die Öffentlichkeit nach Schuldigen, das ist menschlich. Dieser Unfall war für die gesamte Belegschaft ein riesiger Schock, wir werden es nie vergessen», sagt Rossier.

Doch die Kollision von Überlingen hatte auch positive Folgen. Um solche Unfälle in Zukunft zu vermeiden, hat Eurocontrol Ende 2002 den Strategic Safety Action Plan gestartet, der die Qualität der Flugsicherung in 41 Staaten verbessern soll. Eine erste Zwischenbilanz dieses Prozesses wurde im März 2005 veröffentlicht. Darin stellt Eurocontrol fest, dass in Sachen Reporting noch viel im Argen liegt: «Obwohl unbestritten ist, dass der Austausch von Informationen über Zwischenfälle grosse Vorteile bringen würde, sind verschiedene Staaten und Unternehmen besorgt darüber, dass ihre Leistung in Sachen Sicherheit unvorteilhaft mit anderen verglichen werden könnte», heisst es im Bericht.

Dass diese Zahlen im internationalen Vergleich zurzeit für die Schweiz nicht gut ausfallen, nimmt man beim Bundesamt für Zivilluftfahrt in Kauf, wie Sprecher Daniel Göring sagt: «Wir als Aufsichtsbehörde fördern eine aktive Meldekultur. Skyguide meldet im Zweifelsfall eher ein Ereignis zu viel als zu wenig. Das ist positiv, weil man auch aus Situationen lernen kann, die letztlich nicht zu einem Fastzusammenstoss geführt haben.»

Schweiz koordiniert

Nicht nur bei Eurocontrol bemüht man sich darum, aussagekräftigere und damit vergleichbare Daten zu erhalten. Gemäss Jean Overney, Chef des Büros für Flugunfalluntersuchungen (BFU), hat die Kollision von Überlingen «weltweit zu einer Erschütterung geführt». Doch sei das Datenmaterial weiterhin sehr unterschiedlich. Unter der Leitung des BFU hat Mitte Oktober in Belp (BE) ein Seminar stattgefunden, an dem sich die Untersuchungsbehörden von Deutschland, Frankreich und Grossbritannien darauf geeinigt haben, ihre Fehlermeldungen zu harmonisieren. Die Schweiz arbeitet nun einen Vorschlag zur Standardisierung aus, der 2006 von allen Beteiligten diskutiert wird. (NZZaS, 30.10.05)