«Gerichtsentscheid abwarten» (NZZaS)

Publiziert von VFSNinfo am
Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger will im Fluglärmstreit erst verhandeln, wenn der Europäische Gerichtshof entschieden hat

Baden-Württembergs Ministerpräsident Oettinger (CDU) ist bereit, über den Fluglärmstreit mit der Schweiz in einem «Gesamtpaket» zu verhandeln. Zuerst soll aber der Europäische Gerichtshof entscheiden.

NZZ am Sonntag: Herr Ministerpräsident, wer gewinnt heute die Bundestagswahlen?

Günther Oettinger: Wenn die Wahlbeteiligung hoch ist, wird es für eine Mehrheit von CDU und CSU mit der FDP reichen.

Warum hat es die Union nicht geschafft, den Vorsprung in den Umfragen zu halten?

Nach der überraschenden Ansetzung der Wahlen war unser Vorsprung sehr gross. Mir war klar, dass er sich so nicht halten lässt. Die SPD ist eine kampagnenfähige Partei. Gerhard Schröder ist ein geübter Wahlkämpfer, aber Angela Merkel wird mit ihrer Kompetenz gewinnen.

Sie haben der Kanzlerkandidatin der CDU keinen Gefallen getan, indem Sie sich in offenem Widerspruch zu ihr gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgesprochen haben.

Moment! Die Erhöhung der Mehrwertsteuer soll eine Senkung der Lohnnebenkosten kompensieren. Dies unterstütze ich ausdrücklich. Doch als Ministerpräsident muss ich auch die Interessen Baden-Württembergs im Blick haben. Einen Anteil von 20 Prozent an den Mehreinnahmen halte ich für angemessen. Baden-Württemberg muss auf das kommende Jahr hin ohnehin 420 Millionen Euro einsparen.

Welche Beziehung haben Sie zur Schweiz?

Eine sehr enge. Wir haben mit Freunden ein Ferienhaus in Klosters. Dort verbringen wir seit vielen Jahren die Weihnachtstage, und auch im Sommer sind wir einige Tage zum Bergwandern in Klosters. Meine Mutter hat am 1. August Geburtstag. Das ist jeweils Anlass für ein Familientreffen in Klosters mit Feuerwerk.

Sie sind eine Schlüsselfigur im Fluglärmstreit zwischen Deutschland und der Schweiz. Der Flughafen Zürich ächzt unter der deutschen Verordnung, in der Zürcher Bevölkerung bröckelt der Rückhalt für den Flughafen seit der Einführung der Südanflüge. Setzen Sie sich in den Verhandlungen zwischen Berlin und Bern für eine Aufweichung oder eine Verschärfung der deutschen Verordnung ein?

Der Flughafen Zürich hat Fehler gemacht in den letzten Jahren. Unsere Schweizer Nachbarn müssen Verständnis haben für die Bevölkerung der süddeutschen Landkreise, die vom Fluglärm betroffen sind. Mir ist aber klar, dass der Flughafen Zürich für Baden-Württemberg neben der Lärmbelastung auch ein Faktor in der Infrastruktur ist. Beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ist eine Klage der Schweiz hängig. Ich bin der Ansicht, dass man den Entscheid des Gerichtshofs abwarten sollte, bevor man die Verhandlungen zwischen der Schweiz und Deutschland vorantreibt.

Das würde aber bedeuten, dass man kaum wie geplant bis zum Frühling 2006 zu einer neuen Regelung kommt.

Der Europäische Gerichtshof wird bis Herbst 2006 entscheiden, soweit ich informiert bin. Als Jurist sage ich: So lange sollte man warten können. Es geht um die Klärung der zentralen Frage, wie stark ein interkontinentaler Flughafen das Territorium des eigenen Landes nutzen muss, bevor er andere Länder belastet. Ich werde dem neuen Verkehrsminister der Bundesregierung raten, den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs abzuwarten.

Spielen Sie nicht einfach auf Zeit, weil Sie vor den baden-württembergischen Landtagswahlen vom März 2006 die Bevölkerung in den grenznahen Landkreisen nicht vergraulen wollen?

Nein. Ich vertrete die Interessen der Bürgerinnen und Bürger im Süden des Landes vor und nach den Wahlen.

Der Flughafen Zürich weist darauf hin, dass die Flughäfen Frankfurt, München und Stuttgart ohne Einschränkungen des Flugbetriebs operieren können. Das ist ein Wettbewerbsnachteil für Zürich.

Der Flughafen Frankfurt ist an seiner Kapazitätsgrenze. Es zeichnet sich ab, dass er für seine neue Start- und Landebahn noch Jahre brauchen wird. Stuttgart hat ein Nachtflugverbot, und auch München hat Nachtflugbeschränkungen.

CDU-Generalsekretär Volker Kauder fordert im Wahlkampf, dass an Wochenenden gar nicht mehr über Süddeutschland geflogen werden soll. Zudem verlangt er eine Limite von 60 000 Anflügen pro Jahr. Unterstützen Sie diese Forderungen?

Das ist die Position eines Bundestagsabgeordneten aus der Region, in der die Menschen besonders vom Fluglärm betroffen sind. Es gibt Politiker in den Landkreisen, die sogar noch weiter gehen. Ich wiederhole: Wir müssen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs abwarten.

Was halten Sie von der Idee, den Fluglärm mit anderen Themen zu verbinden, die Deutschland und die Schweiz betreffen? Sollten die beiden Staaten ein Gesamtpaket anstreben?

Wir sprechen von einer wirtschaftlich eng verflochtenen Region. Ein Gesamtpaket zu schnüren, wäre nicht einfach. Zur Diskussion steht nicht nur der Anflug auf den Flughafen Zürich, sondern auch das atomare Endlager in Benken, Strassenbauprojekte, Fragen der Landwirtschaft, Bahnprojekte. Diese Bereiche zu verbinden, ist schwierig, weil es auf beiden Seiten verschiedene Entscheidungsträger gibt. Ich bin jedoch an konstruktiven Lösungen interessiert.

Welche Bahnprojekte meinen Sie? Die Verlängerung der Zürcher S-Bahn bis in süddeutsche Landkreise hinein?

Nicht nur. Es geht hier auch um die Erstellung der Bahntrassees auf deutscher Seite, welche die Zulaufstrecken zur Neat im Rahmen eines Hochgeschwindigkeitsnetzes sicherstellen sollen. Auf deutscher Seite zeichnet sich bei diesen Bahnprojekten eine Verzögerung ab.

In der Schweiz wird gegenwärtig ein neues Anflugverfahren geprüft: der gekröpfte Nordanflug, welcher der süddeutschen Grenze entlangführt. Was halten Sie davon?

Es ist noch unklar, wie stark die süddeutschen Landkreise dadurch dem Fluglärm ausgesetzt werden und wie weit von der Grenze geflogen werden soll. Nach internationalen Regeln müssten es mindestens 2,5 nautische Meilen, 4,6 Kilometer, sein.

Wie entwickeln sich die Kontakte zum Kanton Zürich? Was für einen Eindruck haben Sie von Regierungsrätin Fuhrer gewonnen?

Zur Kantonsregierung hat die Landesregierung ein traditionell gutes Verhältnis mit vielen Gesprächskontakten, auch wenn in Einzelfragen unterschiedliche Interessen bestehen. Als gute Nachbarn werden wir immer den Weg des Ausgleichs suchen.

Hat Frau Fuhrer Sie um ein Gespräch über den Fluglärmstreit gebeten?

Bisher hatten wir noch keine Gelegenheit dazu. Ich muss aber betonen: Letztlich entscheidend sind die Gespräche auf Bundesebene.

Interview: Francesco Benini (NZZaS, 18.09.05)


Günther Oettinger
Seit April 2005 ist der 51-jährige Stuttgarter Günther Oettinger Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der Jurist war seit 1991 Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion gewesen und setzte sich in der parteiinternen Wahl um die Nachfolge Erwin Teufels als Ministerpräsident gegen die von Teufel favorisierte Kultusministerin Annette Schavan durch. Oettinger ist verheiratet und hat einen Sohn. (be.)