Fliegen ist zu billig (NZZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Die Vielfliegerei ist zum Lifestyle der modernen Menschen geworden – und für das Klima zur Belastung. Man weiss, wie schädlich das Fliegen ist, und tut es trotzdem. Und jetzt soll die Politik einen Ausweg aus dem Gewissensdilemma offerieren.

Eigentlich ist es eine Erfolgsstory sondergleichen: Der alte Menschheitstraum von der mühelosen Überwindung von Raum und Zeit ist mit der Fliegerei in Erfüllung gegangen – und nicht nur das. Flugreisen an jeden Winkel der Erde sind für Europäer und Nordamerikaner so billig wie noch nie und auch für immer mehr Asiaten erschwinglich. Seit die grossen Fluggesellschaften ihre Maschinen durch Schnäppchenpreise füllen und die Low-Cost-Airlines nach dem Prinzip «Masse statt Marge» Destinationen sonder Zahl zu Billigtarifen anbieten, ist der Kurztrip für Heerscharen von Menschen normal geworden. Mal eben schnell von Zürich für 65 Franken nach Mallorca oder von Basel für 77 Franken nach Berlin oder von Zürich für 288 Franken nach New York – na klar macht man das. Eine Ausstellung in London, ein Fussballspiel in Manchester, die Biennale in Venedig, Shopping in San Francisco, eine Pizza in Nizza, ein Drink in Dublin, ein Instagram-Foto vom Eiffelturm oder von irgendeinem Strand am Mittelmeer – die Gründe, sich ins Flugzeug zu setzen, haben sich vervielfältigt und sind tendenziell endlos. Für die «Generation Easy Jet» gehört die Vielfliegerei so sehr zum Lifestyle, dass sie es kaum mehr als Absurdität empfindet, wenn das Flugticket nach London 22 Franken kostet und das Taxi zum Hotel mehr als doppelt so viel. In der Geschäftswelt ist es üblich geworden, für ein einstündiges Meeting in eine europäische Metropole zu jetten. Und selbst das Berufspendeln per Flugzeug im Wochen- oder Tagesrhythmus ist für viele normal. Warum? Weil es die Angebote gibt, weil es bequem und schnell geht, weil die Preise der Meilen über den Wolken zu solchen Lebensentwürfen animieren und weil man es sich leisten kann.

Häufiger und weiter

Für die Einwohner der Schweiz gilt das in besonderem Mass. 9000 Kilometer fliegen sie im Schnitt pro Person und Jahr, das sind 57 Prozent mehr als 2010, wie die Zahlen aus dem Mikrozensus Mobilität und Verkehr des Bundesamtes für Statistik von 2015 zeigen. Die durchschnittliche Anzahl Flugreisen ist in diesen sechs Jahren um 43 Prozent auf 0,83 Reisen angestiegen, die Privatreisen um 53 Prozent, während die Geschäftsreisen etwa stabil geblieben sind. Rund 80 Prozent aller Flugreisen betreffen Ferien und Ausflüge in Europa und Übersee, Geschäftsreisen machen etwa 13 Prozent aus. In diesen Zahlen sind Säuglinge und Greise mitgezählt, so dass Distanzen und Häufigkeit der tatsächlich Fliegenden noch weit höher liegen.

Die «Generation Easy Jet», die das Fliegen von Kindsbeinen an gewohnt ist, prägt die Statistik. Am häufigsten steigen die 18- bis 44-Jährigen ins Flugzeug, nämlich 1,1 Mal pro Jahr; auch dies sind Durchschnittszahlen, so dass viele von ihnen ein Vielfaches davon in der Luft sind. Sehr deutlich ist der Zusammenhang mit dem Einkommen: Gutverdienende verreisen fünfmal häufiger per Flugzeug ins Ausland als solche mit mittlerem Einkommen. Die Schweizer fliegen auch doppelt so viel wie ihre Nachbarn. Weltweit fliegen nur die Norweger eifriger, und zwar hauptsächlich im Inland, was sich aus der Besiedlung des Landes erklärt. Was die Vielfliegerei bedeutet, zeigt sich an den Passagierzahlen. 2018 beförderten die drei Flughäfen Zürich, Genf und Basel-Mülhausen in insgesamt 472 000 Starts und Landungen rund 57,555 Millionen Passagiere – und die Prognosen deuten auf 80 Millionen Passagiere bis 2030.

Das schlechte Gewissen fliegt mit

Fliegen ist schön. Der heutigen Generation liegt die Welt zu Füssen. Und dies auch noch fast geschenkt. Dieses Verkehrssystem hat den Traum jederzeitiger Verfügbarkeit jeder Destination für alle wahr werden lassen. Aber es erzeugt in der Masse ein Verhalten, das an höheren Irrsinn grenzt und dessen Auswüchse und Nebenfolgen offensichtlich unverträglich sind. Alle wissen es: Fliegen ist in höchstem Mass umweltschädlich. Der Treibstoffverbrauch, der Ausstoss von CO2 und Stickoxiden ist ein x-Faches höher als bei jeder andern Fortbewegungsart, und er findet im Himmel statt, wo die Wirkungen ungleich schädlicher sind als in Bodennähe. In der Schweiz ist der Luftverkehr für 18 Prozent des menschengemachten Klimaeffekts verantwortlich. Mit einem einfachen Flug Zürich–Kairo hat man seinen als klimaverträglich geltenden Jahresausstoss von 1000 bis 1500 Kilo CO2 bereits erreicht. Einmal Zürich–Rio und zurück bedeutet gleich viel wie drei Jahre Auto fahren.

Alle wissen, dass die Vielfliegerei schädlich ist, und trotzdem tut man es, wenn auch mit zunehmend schlechtem Gewissen. Wenn das tatsächliche Verhalten und die eigene Einstellung auseinanderklaffen, spricht die Sozialpsychologie von «kognitiver Dissonanz» – ein Zustand innerer Spannung, der davon herrührt, dass Wissen und Werthaltungen zu den eigenen Taten im Widerspruch stehen. Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen hat den Drang, solch ein unerträgliches Dilemma zu überwinden oder mindestens zu reduzieren, indem er entweder sein Verhalten ändert oder seine Einstellung dazu. Beim Fliegen baut sich derzeit in vielen Ländern eine solche kognitive Dissonanz auf. In Schweden, wo das Phänomen früh einsetzte, hat sich ein Begriff etabliert, der sich inzwischen international verbreitet: «Flugskam» oder «Flugscham». Man schämt sich öffentlich für sein schädliches Handeln und propagiert den freiwilligen Verzicht. Zu beobachten sind in der derzeitigen Debatte aber auch viele weitere, aus der Forschung bekannte Strategien, die kognitive Dissonanz in die andere Richtung zu reduzieren. Ignorieren und Verdrängen ist eine solche Strategie, die sich dann in Sätzen äussert wie «Der Klimawandel ist nicht von Menschen gemacht» oder «Der Flugverkehr hat nur einen kleinen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoss». Oder man sucht Ausreden nach dem Muster: «Als Einzelner hat mein Verhalten sowieso keinen Einfluss», «Das Flugzeug fliegt auch, wenn ich nicht drinsitze». Oder man findet Rechtfertigungen und zeigt auf andere: «Ich fliege nur ganz selten», «Ich bin gezwungen zu fliegen wegen des Geschäfts / des Kongresses / der Verwandten», «Ich verhalte mich sonst ökologisch», «Andere fliegen viel mehr». Seltener schlagen sich Leute auf die egoistisch-hedonistische Seite mit Sätzen wie: «Ich lebe nur einmal und will das Leben geniessen.» Öfter retten sich Gewissensgeplagte in die Hoffnung, der Widerspruch löse sich technisch mit Flugzeugen, die weniger Kerosin verbrennen oder elektrisch angetrieben werden.

Eine etablierte Form, die Gewissensbisse zu mildern, ist die freiwillige Kompensation der CO2-Emissionen. Nach dem mittelalterlichen Muster des kirchlichen Ablasshandels kann man sich in etlichen Ländern von der Klimasünde freikaufen, indem man ein finanzielles Opfer leistet, das in CO2-Reduktions-Projekte fliesst. Myclimate, die grösste derartige Organisation in der Schweiz, verzeichnete letztes Jahr einen steilen Anstieg. Die Kompensationen stiegen um fast 70 Prozent und erreichten ein Volumen von 32 000 Tonnen CO2. Dies ist ein begrüssenswerter Trend, auch wenn erst etwa ein Prozent aller Flüge kompensiert wird. Nur ändert dies nichts an der Vielfliegerei – im Gegenteil: Es könnte dazu betragen, dass mit dem erleichterten Gewissen noch hemmungsloser geflogen wird nach dem Motto: «Ich muss nicht verzichten, ich kompensiere ja den Schaden, der aus meinem Verhalten resultiert.» Dass mit der Kompensation im besten Fall der verursachte CO2-Ausstoss lediglich neutralisiert wird, aber noch keine Reduktion erreicht ist, kann man leicht ausblenden.

Die Politik soll’s richten

Soll der CO2-Ausstoss des Flugverkehrs real zurückgehen, geht dies – neben technischen Fortschritten beim Verbrauch – nur über eine Reduktion der Anzahl Flüge und Flugpassagiere. Dies wiederum könnte am ehesten über eine Anhebung der heute lächerlich tiefen Preise funktionieren, denn diese haben die Nachfrage und damit den Lifestyle des modernen Nomadentums erst erzeugt. Zuallererst müssten die massiven Überkapazitäten im Flugverkehr abgebaut werden. Das Überangebot hat dazu geführt, dass die Airlines gewissermassen im Ramschverkauf am Wühltisch auf Teufel komm raus zusätzliche Nachfrage generieren, um wenigstens noch einen minimen Deckungsbeitrag aus den Sitzen zu holen. Ferner müssten alte Privilegien fallen. So wurde 1944 der internationale Flugverkehr auch in der Schweiz von Steuern auf Kerosin befreit, und es wird auch keine Mehrwertsteuer bezahlt. Solche Fehlanreize sind heute nicht mehr zu begründen. Darüber hinaus muss international ein System gefunden werden, mit dem der Luftverkehr nach dem Verursacherprinzip die externen Kosten seiner Umweltschädigung übernimmt und auf die Ticketpreise umlegt. Der Einbezug des Luftverkehrs ins EU-Handelssystem mit CO2-Verschmutzungsrechten ist dabei ein erster Schritt. Folgen muss auch der zweite Schritt mit der Übernahme des Corsia-Systems der Uno-Luftfahrtorganisation ICAO, eines globalen Kompensationssystems, mit dem wenigstens das Wachstum des internationalen Luftverkehrs ab 2020 CO2-neutral gemacht werden soll. Auch die Flugticketabgabe, die nun von den Klimabewegten gefordert wird, weist in diese Richtung.

Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass mit dem gesteigerten Klimabewusstsein derartige Verteuerungen mehrheitsfähig sein könnten, vor allem wenn die Einnahmen in Klimaprojekte fliessen. Höhere Preise für die Mobilität können allenfalls ein Hebel sein, um die Auswüchse der Luftfahrt zu mildern. Mindestens würden Vielflieger so wenigstens einen Teil der Kosten für die ökologischen Belastungen ihres Tuns tragen. Dass dies zu einer Verhaltensänderung führt, ist hingegen fraglich. Die Preise auf dem zerrütteten Markt sind derart tief, die Kaufkraft derart hoch und die Gewohnheiten inzwischen derart stark verfestigt, dass auch bei einem hohen Aufschlag die Schmerzgrenze sehr spät erreicht würde. Zudem handelt es sich hauptsächlich um Ferien- und Freizeitaktivitäten, bei denen nachweislich weniger aufs Geld geschaut wird. Oder es sind Geschäfts-, Kongress- und Studienreisen, die nicht aufs eigene Portemonnaie drücken, sondern auf jenes des Arbeitgebers oder des Forschungsinstituts. Für den Einzelnen ist der Ausweg aus seiner kognitiven Dissonanz zwischen Einsicht und widersprüchlichem Verhalten eigentlich einfach: den anerzogenen Irrsinn nicht mehr mitmachen und weniger fliegen.

NZZ, 20.03.2019

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