Stille Nacht in Hohentengen (OaS)

Publiziert von VFSNinfo am
Hauptgesprächsthema in Hohentengen ist das Verkehrschaos: Jenes auf den Strassen und nicht am Himmel.

Auf der Suche nach dem Fluglärm – ein Selbstversuch

GOTTLIEB F. HÖPLI

HOHENTENGEN. Rrrums! Noch vor sechs Uhr morgens schreckt uns massiver Motorenlärm aus dem Hotelbett. Kein Wunder, denken wir. Wir befinden uns schliesslich in Hohentengen im Landkreis Waldshut, direkt in der Einflugschneise zum Flughafen Zürich-Kloten. Was uns aus tiefem, ungestörtem Schlaf reisst, ist allerdings kein Grossraum-Jet, sondern ein Lastwagen. Den ganzen Morgen ist in diesem angeblich permanent lärmgepeinigten Flecken am Hochrhein kaum ein Flugzeug zu sehen und schon gar nicht zu hören. An- und Abflüge auf dem Flughafen finden zu dieser Stunde anscheinend hauptsächlich aus Süden beziehungsweise nach Westen und Osten statt. Zu hören von Zehntausenden von Zürchern, Aargauern und Ostschweizern.

Weinbau, Landwirtschaft und Gewerbe prägen die gemütlichen Dörfer. Hier, auf der Sonnenseite des Hochrheins, geht das Leben der 3700 Hohentengener seinen gemächlichen Gang. Der staatlich anerkannte Erholungsort ist an die grünen Hügel am Nordrand der Gemeinde angelehnt und blickt nach Süden: auf den glitzernden Rhein, an dessen Ufer Spuren der Biber sichtbar sind, der Eisvogel wieder eine Heimat gefunden hat und wo seltene Pflanzen wie der Frauenschuh blühen, wie das lokale Fremdenverkehrsamt dichtet. Am Horizont, so die Tourismus-Poesie, grüsst bei guter Sicht die Alpenkette in der Schweiz.

Hotelbetten ausgebucht
Unseren Selbstversuch beginnen wir an einem Donnerstag im August, abends um sechs Uhr, mit dem Einchecken in einem kleinen Hohentengener Gasthaus an der vielbefahrenen Strasse nach Basel beziehungsweise Schaffhausen. Unsere Buchungsversuche hatten gezeigt, dass die wenigen Hotelbetten der Gegend im Nu ausgebucht sind. Flugzeuge überfliegen den Ort, sind hier aber nur zu hören, wenn der Feierabendverkehr kurz abflaut. Hauptgesprächsthema ist hier ohnehin das Verkehrschaos und die mühsamen Umwegfahrten, die durch die baubedingte Sperrung der Brücke nach Kaiserstuhl entstanden sind.

Zum Nachtessen ins attraktivste Haus am Platz: die «Wasserstelz», ein über tausendjähriges Burggebäude am Rhein, seit 1997 Gästehaus und Gaststube von gehobenem Niveau. Die einstige Burg liegt direkt in der Einflugschneise. Hier rauschen zwischen sieben und halb neun Uhr die Jets im Abstand weniger Minuten in Richtung des Flughafens. Ihre Flughöhe über Grund beträgt hier 800 Meter.

Nachtflugverbot
Das Heulen der Triebwerke im Landeanflug tönt je nach Flugzeugtyp unterschiedlich lästig, ist aber nicht zu vergleichen mit dem ohrenbetäubenden Krach nach dem Start, wie es etwa die Bewohner im zürcherischen Rümlang zu ertragen haben. Hier, direkt in der Einflugschneise, beträgt der Lärm zwischen 45 und 55 Dezibel, das entspricht normaler Gesprächslautstärke, einer ruhigen Strasse oder einem leise eingestellten Radio. Gespräche im wunderschönen Garten der «Wasserstelz» werden dadurch jedenfalls nicht gestört. Gegen halb zehn wird\'s auch am Himmel ruhig. Und um zehn Uhr ist endgültig Schluss. Nachtflugverbot.

Und auch am folgenden Morgen haben wir Pech: von lautem Fluglärm keine Spur. Kaum je ein Jet zu hören. Der Landeanflug scheint wieder einmal zur Hauptsache aus Süden und Osten, über wesentlich dichter besiedeltes Gebiet also, zu erfolgen.

Lärm, das wissen auch die Lärmspezialisten der Empa, ist etwas Subjektives. Ihre Messungen, die dem Zürcher Fluglärmindex (ZFI) zugrunde liegen, versuchen deshalb zu objektivieren. Sie messen nicht einfach den Lärm, sondern die Lärmbelastung der Menschen im Einzugsgebiet. Und zwar bei Tag und bei Nacht, wobei die Gesamtbelastung eine definierte Obergrenze nicht überschreiten darf. Nach dem ZFI sind rund um den Flughafen Zürich-Kloten rund 53\'000 Menschen tagsüber (35\'685) oder nachts (18\'000) übermässigem Fluglärm ausgesetzt. Bei Tag ist der Grenzwert 47 Dezibel, in der Nacht 37 Dezibel. Dass die Obergrenze von 47\'000 lärmbelästigten Menschen klar überschritten ist, liegt allerdings nicht an einer steigenden Zahl von Flugbewegungen oder gar von lauteren Jets, sondern an der ungebremsten Zuwanderung in die Flughafenregion.

Würde der jahrzehntealte Protest gegen den Flughafen in Dezibel ausgetragen, müssten die rund 50\'000 betroffenen Zürcher Kantonsbewohner den weitaus grössten Lärm machen. Auch die Aargauer mit über 3000 Betroffenen dürften ihre Stimme noch recht laut erheben. Wer hingegen ganz leise protestieren müsste, wären unsere süddeutschen Nachbarn: Gerade einmal 60 Hohentengener und 32 Küssaburger dürften sich beschweren – weit weniger, als die Zahl der Grenzgänger beträgt, die täglich «in die Schweiz nei» zur Arbeit fahren. Das sind 0,2 Prozent der vom Zürcher Fluglärm Betroffenen.

Das wunderschöne Weinbau- und Landschaftsschutzgebiet am Hochrhein weiss leider nicht recht, als was es in den Medien erscheinen möchte: Als kleines landschaftliches Juwel oder als von den Schweizern arglistig mit Fluglärm überzogene Flughafenrandgemeinde. Es wird sich entscheiden müssen: Mit einem Doppel-Image wird das auf Dauer nicht funktionieren. Mit oder ohne neuen Staatsvertrag.

Beinahe hätte die Geschichte das Problem des Lärms um den Fluglärm anders gelöst: Über Jahrhunderte war Tengen mit dem ennetrheinischen Städtchen Kaiserstuhl verbunden. Den von Napoleon verfügten Anschluss an das neue Grossherzogtum Baden versuchten die Hohentengener zu umgehen, indem sie sich der Schweiz anschliessen wollten. Der Versuch scheiterte, und so machen heute die politischen Vertreter von 92 Süddeutschen innerhalb des ZFI-Lärmkatasters Lärm bis nach Bern und Berlin.

Flughafen wird angepriesen
Die süddeutschen Grenzgänger von heute müssten eigentlich ausgeschlafen sein, denn in der Nacht und am frühen Morgen ist kein Flieger zu hören. Den Tausenden von fluglärmgeplagten Bewohnern der Südanflugschneise, von der Forch über Gockhausen bis nach Schwamendingen kann man nur raten, den vom Fluglärm geraubten Schlaf einmal am schönen Hochrhein nachzuholen! Von den gepeinigten Anrainern deutscher Flughäfen wie Frankfurt am Main ganz zu schweigen: Für sie müsste Hohentengen ein wahres Paradies sein. Auch unsere süddeutschen Nachbarn wissen übrigens die Nähe zum Flughafen Zürich durchaus herauszustellen, wenn sie die Verkehrsanbindung ihrer Ferienregion zum internationalen Flugverkehrs-Hub in Kloten anpreisen.

Wem das nicht schnell genug geht, dem bietet die Region noch eine besondere Attraktion. Auf dem Gemeindegebiet von Hohentengen liegt der Flugplatz von Mengen-Hohentengen, der mit seinen 36\'000 Flugbewegungen jährlich (davon 9500 gewerbliche) an fünfter Stelle in Baden-Württemberg liegt, wie die Gemeinde auf ihrer Homepage stolz vermeldet. Titel: Wer hat schon einen eigenen Flugplatz?

Ostschweiz am Sonntag, 15.09.2013