Berlin bremst Staatsvertrag (NZZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Wegen eines Zahlenstreits droht der Fluglärm-Staatsvertrag mit Deutschland nun zu scheitern. Zu Nachverhandlungen ist die Schweiz nicht bereit.

Fabian Fellmann

Der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) tritt beim Fluglärm-Staatsvertrag mit der Schweiz auf die Bremse. Noch vor wenigen Wochen trieb sein Ministerium die Vorbereitung für die Abstimmungen in den zwei deutschen Parlamentskammern eilig voran. Seit vergangener Woche ruht das Geschäft aber.

Aus dem Umkreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist zu hören, Ramsauer werde den Vertrag erst ins Parlament bringen, wenn er sich der Zustimmung gewiss sei. Dafür laufen Gespräche mit den süddeutschen CDU-Vertretern, die sich öffentlich gegen den Staatsvertrag geäussert haben, wodurch die Befürworter in der Minderheit sind. In drei Wochen empfängt Ramsauer die Baden-Württemberger in Berlin, um sie zur Zustimmung oder zumindest Enthaltung zu bewegen.

Hintergrund der parteipolitischen Manöver sind die Bundestagswahlen 2013. Im grün regierten Baden-Württemberg steckt die CDU in der Defensive. Das eröffnete ihren Vertretern im Ländle die Möglichkeit, den Fluglärm-Staatsvertrag von einem regionalen Rand- zu einem nationalen Wahlkampfthema zu machen. In der SPD-Fraktion hiess es noch vor kurzem, man werde dem Vertrag wohl zustimmen. Jetzt aber muss sie mit der CDU mithalten und lehnt den Vertrag ebenfalls ab. Politiker aller Parteien fordern inzwischen Nachverhandlungen.

Ramsauer machte seinem Ärger über diese Störmanöver am Freitag öffentlich Luft. Obwohl er den Vertrag ausdrücklich als gut bezeichnete und für dessen Vorteile warb, kritisierte er die Schweiz scharf. Der Bundesrat habe in Deutschland alles in Brand gesteckt, «was man in Brand stecken kann». Damit meinte er den Vernehmlassungsbericht des Bundesrats, der bis zu 110\'000 Flüge jährlich über Deutschland erwähnt. «Das ist natürlich ein völliger Quatsch, einen solchen Unfug zu schreiben», sagte Ramsauer. Berechnungen hätten gezeigt, dass rund 85\'000 Flüge stattfänden.

Streit um Zahlen
In der Schweiz stossen die Forderungen nach Nachverhandlungen auf Unverständnis. Bundesrätin Doris Leuthard sagte gestern am Rande der CVP-Jubiläumsfeier, der Vertrag müsse jetzt den normalen politischen Weg durch die Parlamente gehen. Und Flughafen-CEO Thomas Kern sagte auf Anfrage: «Nachverhandlungen sind nicht nötig.» Beide Zahlen, über die nun diskutiert werde, seien richtig; sie beträfen aber verschiedene Kategorien. «Unsere Berechnungen haben gezeigt, dass die Zahl der Flugbewegungen nach der Ratifikation des Vertrags in den Parlamenten mit der zusätzlichen Sperrstunde abends um 5000 reduziert wird. Mit den vollen Sperrzeiten ab Inkrafttreten des Vertrags 2020 sind es noch einmal etwa 20\'000», sagt Kern. Somit würden im Jahr 2020 voraussichtlich rund 85\'000 Flugzeuge über Deutschland den Flughafen Zürich anfliegen. «Danach kann es sein, dass die Zahl der Flugbewegungen wieder leicht zunimmt», sagt Kern.

Auszugehen ist von rund 3 Prozent jährlich. Basis dieser Berechnungen sind Wachstumsprognosen der Beratungsfirma Intraplan von 2005. «Gemäss den Prognosen erreichen wir aber auch bei Ablauf des Vertrags im Jahr 2030 nicht 110\'000 Flüge», sagt Kern, «diese Zahl beschreibt nur die theoretische Kapazität des Flughafens bei den mit Deutschland verhandelten Sperrzeiten.»

Rettungsversuch in Botschaft
Fraglich ist, ob solche Erklärungen genügen, um die Zweifel in Süddeutschland zu zerstreuen. Der Bundesrat lehnt Nachverhandlungen ab, würde aber erwägen, in der Botschaft an das Parlament Ende Jahr Klärung zu schaffen, wie es in Bern heisst. Flughafen-CEO Thomas Kern gibt sich optimistisch, dass der Vertrag angenommen wird. Er vermutet, deutsche Fluglärmgegner wollten den Vertrag zum Scheitern bringen, damit Berlin einseitig die Zahl der Überflüge beschränkte.

Was bei einem Scheitern des Vertrags passieren würde, ist unklar. Dem Flughafen bliebe die Investitionssicherheit versagt, und aus Deutschland drohen einseitige Verschärfungen. Diese kann die Schweiz aber vermutlich gelassen zur Kenntnis nehmen. Noch im Juli hatte Ramsauer gesagt: «Solche einseitigen Verschärfungen haben auch ihre Grenzen. Wir hätten noch die eine oder andere Möglichkeit nutzen können, was aber nicht besser gewesen wäre als der Staatsvertrag.»

NZZ, 28.10.2012


«Wir haben Transparenz geschaffen»NZZ am Sonntag: Zum Fluglärm-Staatsvertrag kommen wütende Töne aus Deutschland. Wie reagieren Sie darauf?
Doris Leuthard: Es hat in Süddeutschland immer Widerstand gegeben, auch gegen die heutige Situation. Wir haben einen guten Staatsvertrag ausgehandelt, der Deutschland mehr lärmfreie Zeit am Abend bringt. Man muss wegkommen vom Gedanken, dass die Zahl der Flugbewegungen entscheidend sei.

Deutschland kritisiert, die Schweiz habe einseitig eine maximale Zahl von 110\'000 Nordanflügen kommuniziert.
Wir haben Transparenz geschaffen. Was Verkehrsminister Peter Ramsauer sagt, ist richtig: Mit dem Inkrafttreten des Vertrags 2020 wird die Zahl der Flüge über Deutschland sinken. Aber wir haben keine Obergrenze definiert, darum kann sich die Zahl der Flüge mit der Entwicklung des Flughafens bewegen. Wir zeigten in den Vernehmlassungsunterlagen die bis 2030 oder 2035 maximal möglichen Nordanflüge auf, weil das der Kapazitätsgrenze des Flughafens entspricht. Diese Transparenz haben unsere Parlamentarier vom Bundesrat verlangt.

Ramsauer sagte, damit habe die Schweiz alles in Brand gesteckt, was in Brand gesteckt werden könne.
Man darf nicht nur eine einzelne Aussage herauspicken. Bundesminister Ramsauer hat auch gesagt, es sei ein guter Vertrag. Früher hat Deutschland der Schweiz vorgeworfen, wir würden nicht kooperieren. Darum ist uns Vertrauen wichtig, und das bedingt Transparenz. Ich bedaure die Attacken aus Süddeutschland auf Minister Ramsauer. Ich bitte die süddeutsche Bevölkerung, genau hinzuschauen: Das neue Konzept baut auf lärmfreien Zeiten auf, nicht auf Flugbewegungen.

Wie wollen Sie den Brand in Deutschland löschen?
Auch in der Schweiz gibt es Bewegungen von Unzufriedenen. Wir rufen zu Sachlichkeit auf und zum Abwägen der Vor- und Nachteile ohne Emotionalität und Wahlkampfgetöse.

Aufgezeichent von Fabian Fellmann

NZZ, 28.10.2012