Der gekröpfte Nordanflug im Test (BZ)

Publiziert von VFSNinfo am
Haben die Aargauer recht, wenn sie sich beklagen? Ein Reporter der «Basler Zeitung» hat die neue Route nach Zürich getestet.

Von Thomas Wehrli.

Die Überraschung kam Anfang Jahr am Weltwirtschaftsforum in Davos angeflogen: Verkehrsministerin Doris Leuthard und ihr deutscher Amtskollege Peter Ramsauer unterzeichneten am Rande des Forums eine Absichtserklärung, um den seit 27 Jahren schwelenden Fluglärmstreit endlich beizulegen. Bis im Sommer, so der ehrgeizige Fahrplan, liege der Staatsvertrag vor. Noch blieb es ruhig im Aargau.

Mein Pilot, ein erfahrener und freundlicher Kapitän der Lüfte, wartet noch vor dem Start mit einer unerfreulichen Nachricht auf: Die Maschine, eine Piper PA18 Super Club, habe nur einen Motor, erklärt er. Es könne, «zumindest theoretisch», vorkommen, dass besagter Antrieb in der Luft aussetze. Nun sage er dies, damit sein Passagier, der hinter ihm zu sitzen geruht, in einem solchen Fall nicht ausflippe und ihn mit Schlägen malträtiere. Ansonsten könne die Notlandung, eigentlich problemlos auf jeder Wiese durchführbar, zum Problem werden. Das sitzt.

Ob so viel Offenheit «entzückt», will der Passagier nicht zurückstehen und erklärt dem Piloten seinerseits, dass dies sein erster Flug in einem so kleinen Ding sei. Was die Folge zeitigt, dass der Pilot nach jeder thermisch bedingten Rütteleinheit besorgt nach hinten fragt: «Geht es noch?» Und ergänzt: «Sie sagen frühzeitig, wenn Ihnen unwohl wird.» Es wird nicht. Den ganzen rund einstündigen Flug mit seinen mehreren Dutzend Schütteleinheiten lang.

Tatsächlich: Anfang Juli liegt der Staatsvertrag vor. Er sieht, anders als der erste (und vom Schweizer Parlament versenkte) Vertrag von 2001 zwar keine Beschränkung der Flugbewegungen über deutsches Gebiet mehr vor. Dafür ist das Sperrzeiten-Regime rigider: Heute können die Flieger wochentags bis 21 Uhr und an den Wochen­enden bis 20 Uhr von Norden her landen. Künftig darf der Hub täglich ab 18 Uhr nicht mehr über Deutschland angeflogen werden. Am Morgen wird die Sperrzeit werktags um 6.30 Uhr aufgehoben, am Wochenende um 9 Uhr.

Summa summarum bedeutet dies: Die Schweiz muss künftig 20\'000 Anflüge mehr pro Jahr über eigenes Territorium abwickeln. Das Land horcht auf, zumindest die Schweiz rund um den Flughafen. Im Süden und Osten ist man in Alarmbereitschaft. Und auch im Aargau runzelt man die Stirn. Denn unverhofft bringt die Aargauerin Doris Leuthard den gekröpften Nordanflug «als Option» wieder ins Spiel, ausgerechnet jenes Anflugregime also, das über Aargauer Gebiet führt und das die Regierung jahrelang mit Vehemenz bekämpft hat. Erfolgreich, meinte man in Aarau, der Gekröpfte sei für immer geköpft. Doch wie Hydra, das griechische Ungeheuer mit seinen zahlreichen Köpfen, entpuppte sich auch der Gekröpfte als mehrköpfiges Wesen.

Warteraum in 2000 Metern Höhe

Wir wollen den Kopf, den Gekröpften, besser verstehen und fliegen den gekröpften Nordanflug schon einmal in einem Zweiplätzer ab. Der Start glückt und der Passagier widersteht der Versuchung, mit den Pedalen zu seinen Füssen zu spielen. Das Flugzeug könne, so erklärt der Pilot, auch vom Hintersitz aus geflogen werden. Den zweiten Steuerknüppel, jenen vor meinem Sitz, hat er, sicher ist sicher, entfernt.

Rund 400 Meter über Boden fliegen wir den «Gipol» ab, jenen Warteraum über Frick, wo dereinst die gekröpft Landenden ihrem Anflug entgegen kreisen sollen. Der richtige Warteraum befindet sich in rund 2000 Metern Höhe – hörbar sind die Flugzeuge am Boden nicht.

Lärm soll verteilt werden

Nur Tage nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages, den Leuthard selber als «nicht das Optimum» bezeichnete, «optimiert» sich dafür das Schreckgespenst des Gekröpften: Er sei für die frühmorgendlichen Anflüge zwischen 6 und 6.30 Uhr «ein Muss», sagt Andreas Schmid, Verwaltungsratspräsident der Flughafen Zürich AG. «Der Flughafen hat sich immer dafür starkgemacht, möglichst wenige Menschen zu belasten. Der Lärm soll, soweit dies politisch möglich ist, konzentriert und nicht verteilt werden.» Zwei Regionen trifft die Verteilung: Am Abend soll der Flughafen über Osten angeflogen werden, am Morgen über den Gekröpften. Als Gewinner geht der dicht besiedelte Süden aus dem Fluglärmstreit hervor.

Es ruckelt wieder einmal gewaltig. «Die Thermik», entschuldigt sich der Pilot. Ich lächle gedrückt. Das ist einer jener Momente, in dem ich mich einige Tausend Fuss höher wünsche, meine Füsse wohlig in einem Jumbo von mir streckend. Gut, eine klitzekleine Boeing täte es auch.

Wir verlassen die «Gipol» über Frick, fliegen der Bözbergroute entlang, fliegen nördlich an Brugg vorbei, kommen zum Kernkraftwerk Leibstadt, das aus der Luft recht klein wirkt, gespenstisch auch, da es derzeit revisionsbedingt abgeschaltet ist und nicht der Hauch einer Wasserdampfwolke emporsteigt.

Selbst ein Airbus-Absturz würde dem Kernkraftwerk nicht schaden

Der Aufschrei im Aargau ob der gekröpften Drohung ist gross. Dies wäre «ein Riesenschreck für die Region», meint Kurt Schmid vom Verein «Gekröpfter Nordanflug Nein» und verweist auf die neue Abflugroute, die künftig spätabends über das Surbtal führen wird. Eine Doppelbelastung komme nicht infrage. Vom «Lastenesel Aargau», von den braven Aargauern, mit denen man es ja machen könne, spricht die «Aargauer Zeitung». Es ist wie bei den weissen Socken: Die Aargauer bewirtschaften ihre Klischees gleich selber.

«Vor uns liegt Würenlingen», meint der Pilot und steuert die Piper am Paul Scherrer Institut und am Kernkraftwerk Beznau vorbei in Richtung Kaiserstuhl, in die Region also, in welcher der Gekröpfte die hörbarsten Folgen hätte, in die Region, die allmorgendlich per Düsenmusik geweckt würde. Bleibt die Frage: Wie belastend wären die anfliegenden Jets eigentlich? Die Meinungen gehen weit auseinander. Während die einen von «unzumutbar» sprechen, sorgte Max Ungricht, Pilot und Chefredaktor des Aviatikmagazins «Cockpit», mit seiner Aussage, der Flugplatz Birrfeld mache mehr Lärm, für Lärm.

Beim Versuch, das Kernkraftwerk zu fotografieren, reisst mir ein Windstoss die Kamera beinahe aus den Händen. Ich muss schmunzeln. Das wäre eine Schlagzeile: Journalist bombardiert das Kernkraftwerk mit seiner Kamera. Schaden hätte die Attacke, abgesehen von einer in Kleinstteile zersplitterten Spiegelreflexkamera, keine verursacht. Selbst den Absturz eines Airbus überstehen die Kernkraftwerke, glaubt man dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat, ohne gravierende Folgen. Dies bezweifeln Gekröpfte- und Atomgegner gleichermassen. Nach der Atomkatastrophe in Fukushima forderte Schmid eine fünf Kilometer grosse Sperrzone für An- und Abflüge und Geri Müller, grüner Nationalrat, meinte in der «Aargauer Zeitung»: «Ein solcher Absturz könnte eine Kernschmelze verursachen und wäre fatal.»

Mit satellitengestützem Navigationsverfahren bewilligungsfähig

Um bei den Schlagzeilen zu bleiben: «Wirbel um exotischen Anflug eines Airbus», schrieb der «Tages-Anzeiger» vor vier Jahren und er gab den Südschneisern, wie die Fluglärmgegner im Süden heissen, eine mediale Startbahn. Diese wollten mit einer sogenannten Flugspur nachweisen, dass ein Airbus der Swiss, aus welchen Gründen auch immer, am 11. Juni 2008 den Gekröpften schon mal annähernd geflogen sei und das Anflugverfahren, ergo, tauglich sei.

Der theoretischen Machbarkeit widersprach das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) nicht. Es absolvierte 2005 selber neun Testanflüge und stellte fest: Der Anflug ist technisch möglich, wenn fliegerisch auch nicht optimal. Aus Sicherheitsgründen, so kam das Bazl 2008 zum Schluss, könne der Gekröpfte aber derzeit nicht bewilligt werden.

Die Gegner des Gekröpften wähnten sich in Sicherheit und wollten es vor allem glauben, dass der Gekröpfte definitiv vom Landetisch ist. Nur: Das Bazl machte bereits beim damaligen Nein zum Gekröpften klar, dass das Anflugverfahren bewilligungsfähig werde, sobald ein satellitengestütztes Navigationsverfahren vorliege, das sicherheitsmässig mit dem heute üblichen Instrumentenlandesystem (ILS) vergleichbar sei. Dies werde, versichert der Flughafen Zürich, bis 2020, wenn der Gekröpfte geflogen werden soll, der Fall sein. Im Sachplan Infrastruktur Luftfahrt vom Februar 2010 taucht der ­Gekröpfte ebenfalls als Variante «für die Anflüge in den ersten Morgen­stunden» auf.

Wir fliegen die Zukunft

Eine Boeing donnert über uns hinweg, im Anflug auf Zürich. Nicht gekröpft, sondern schnurgerade fliegt sie den Flughafen an, so, wie der Nordanflug in aller Regel verläuft. Sie liegt ruhig in der Luft, ist noch mit einer Leistung von 60 bis 70 Prozent unterwegs. Hier also, bei Stadel (ZH), erfolgt das Einschwenken auf die heutige Route. Als «fliegbar, aber nicht optimal» beurteilen die Schweizer Linienpiloten den Gekröpften, im Wissen darum: «Die satellitengestützten Anflüge sind die Zukunft.»

Wir fliegen die Zukunft schon einmal, «kröpfen» uns und drehen dann ab. Denn schliesslich wollen wir von der Flugsicherung nicht geköpft werden. Wir fliegen zurück, landen sicher. Ich steige aus, ganz froh darüber, dass das Dröhnen des einzigen Motors erst jetzt verstummt ist.

Basler Zeitung, 15.08.2012

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