Die Stunde der Selbstgeisselung ist vorbei (Weltwoche)

Publiziert von VFSNinfo am

Seit Jahren schadet Deutschland dem Flughafen. Die Schweiz hat sich kaum gewehrt. Nun spricht der Zürcher Stadtpräsident aus, was nottut: Gegenmassnahmen.

Elmar Ledergerber, Stadtpräsident von Zürich und Sozialdemokrat mit freisinnigen Neigungen, hat erneut sein Gespür für den richtigen Zeitpunkt und die optimale Bewirtschaftung der öffentlichen Aufmerksamkeit bewiesen. In einem offenen Brief an die «lieben Nachbarn» im Südschwarzwald, der in ein paar lokalen Zeitungen als Inserat erschienen ist, hat er übers Wochenende die Deutschen scharf angegriffen und alle Schweizer überrascht, wenige verärgert, viele erfreut. Selbst die politische Konkurrenz, die SVP, wirkt derangiert – verdattert klagt sie über «Populismus». Ausgerechnet die SVP. Beunruhigender für sie ist: Ledergerber hat recht.  

«Gefährliche Überreaktionen»

Seit Jahren bedrängt ein von der Berliner Regierung einseitig erlassenes Anflugregime den Zürcher Flughafen, den Lebensnerv der Schweizer Wirtschaft, und die hiesigen Behörden, ob im Kanton Zürich oder im Bund, sehen sich ausserstande, die Deutschen zu Konzessionen zu bewegen. Es ist höchste Zeit für eine robustere Politik, und es entbehrt nicht der Ironie, dass der Sozialdemokrat Ledergerber nun Gegenmassnahmen vorschlägt, wie sie schon vor ein paar Jahren SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer im Namen seiner Fraktion verlangt hatte. Man könnte etwa die Rheinbrücken aus Lärmschutzgründen in den gleichen Stunden sperren, in denen Nordanflüge auf Kloten untersagt seien, zitiert Ledergerber «Leute», die solches «wöchentlich» forderten. Staatsmännisch distanziert er sich zwar von diesen «gefährlichen Überreaktionen» – aber zwischen den Zeilen ist klar, dass er genau dies selbst in Erwägung zieht. Wortreich zählt er alle Vorzüge des Flughafens auf, die angeblich auch den Süddeutschen zugute kommen: Arbeitsplätze, Tourismus, Verbindungen in die grosse Welt. Aber unter dem Strich, hinter dem süsslichen Geruch von Höflichkeit («Ich bedanke mich für Ihre Bereitschaft zum Dialog»), bleibt eine Botschaft unverkennbar: Wir können auch anders.

Ledergerber hat exakt den Nerv der schweizerischen Öffentlichkeit getroffen. Auf zwei Arten. Unter zivilisierten Menschen gilt es zwar als ein Tabu: Das ambivalente Verhältnis der Schweizer gegenüber den Deutschen darf nicht zu politischen Zwecken ausgeweidet werden. Doch es gibt kaum ein Gefühl, das so stark die schweizerische Identität ausmacht. Wer gegen die Deutschen wettert, dem stimmt der Schweizer zu, ohne dass er dies je offenbaren würde. Der Bauch schweigt. Insbesondere heute, in Zeiten, da die Zahl der Deutschen in der Schweiz monatlich anschwellt. 20000 leben in Zürich, inzwischen die grösste Gruppe von Ausländern, die sich im Übrigen auf Hochdeutsch danach erkundigt, wie man am Automaten eine «Fahrkarte» ins «Albisgüütli» kauft, wenn man keinen «Geldschein» zur Hand hat. Ledergerber betreibt identity politics, wie sie sonst nur die SVP beherrscht – während linke Politikwissenschaftler besorgt die Hände falten.

Deutsche wollen doch nur helfen

Zweitens ist auch in der Schweiz der fast zur Karikatur geratene «Selbsthass» der neunziger Jahre überwunden. In der NZZ sagt Ledergerber: «Wir müssen in der Schweiz lernen auszurufen.» Er wird damit mehr Wähler ansprechen, als seiner Partei lieb sein kann. Angesichts einer unübersichtlichen Welt, wo jedes Land stoisch seine Interessen verfolgt, ist es in der Tat die falsche Politik, auf das Wohlwollen der «lieben Nachbarn» zu hoffen.

Als die Lufthansa die Swiss schluckte, glaubte ein Bundesrat gar, die Deutschen täten dies, um «uns zu helfen». Gleichzeitig versäumte es die Regierung, die Lufthansa, die für ein Butterbrot die Schweizer Airline erhielt, dazu zu verpflichten, in Berlin für ein anderes Anflugregime für Kloten zu sorgen. Diese Naivität ist zwar nach wie vor verbreitet, aber sie wird bald der Vergangenheit angehören. Wenn in Kloten etwas verändert werden soll, dann geht es nur mit schweizerischem Druck. Zwar ist die Schweiz aus Sicht Berlins – und zu Recht – nur ein kleiner Fleck in der Landschaft, doch die Deutschen haben auch verletzliche Interessen in der Schweiz. Der Transit wurde erwähnt. Wie wäre es, wenn die Schweiz für reiche Deutsche eigens ein Pauschalsteuerabkommen einführte? Jeden Monat senken wir den Tarif um einen Prozentpunkt, bis die Deutschen wieder ernsthaft über Kloten verhandeln.

Was furchtbar primitiv klingt, wendet die EU-Kommission längst an. Unter grossem Druck Berlins und Paris’ wird die Kommission dieser Tage offiziell die Steuerhoheit der Kantone in Frage stellen. Mit dem fadenscheinigen Vorwand, die tiefen Steuern in Zug oder Schwyz verletzten das Freihandelsabkommen der Schweiz mit der damaligen EG, trachten die Hochsteuerländer im Westen und Norden danach, ihre ausser Rand und Band geratenen Staatshaushalte auf Schweizer Kosten zu sanieren. Dass damit die Souveränität eines kleinen Landes übergangen wird, wo seit Jahrhunderten tiefe Steuern fast zum nationalen Habitus geworden sind, löst in Berlin oder Paris keine grösseren Selbstzweifel aus.

Seit Jahren quälen sich die Schweizer: Wir haben die Süddeutschen zu lange nicht ernst genommen, nie mit ihnen gesprochen, sie nie zum Sechseläuten eingeladen. Die Zeit der Selbstgeisselung kommt an ihr Ende.

Weltwoche, Ausgabe 06/07



siehe auch:
Ledergerber mit deutlichen Worten (TA)
Ledergerber provoziert Süddeutsche (VFSN)
Schweizer Selbstzerfleischung (TA)
Bravo, Elmar Ledergerber! (Leserbriefe TA & NZZaS)