Wie Studien die Wirtschaft fünfmal grösser machen (NZZaS)

Publiziert von VFSNinfo am
Der Nutzen von Nutzenstudien ist gross - für Berater, die sie verfassen, und für Lobbys, die sie nutzen. Für die anderen sind sie unnötig und politisch gefährlich, schreibt Tilman Slembeck.

Wussten Sie, dass der Gesundheitssektor mehr als eine halbe Million Menschen beschäftigt und dass seine Wertschöpfung 60 Milliarden Franken beträgt? Oder dass der Luftverkehr für die Schweiz bis zu 24 Milliarden wert ist? Und das jedes Jahr. Die Zahlen sind beeindruckend - und genau darin liegt ihr Zweck. Sie stammen nämlich aus Studien, die von den betroffenen Branchen selbst in Auftrag gegeben wurden.

Nutzenstudien sind beliebt, vor allem zum Thema Verkehr. Eine neuere Studie im Auftrag zweier Bundesämter kommt zum Schluss, dass der Verkehr auf Strasse und Schiene für die Schweiz einen Nutzen von gut 52 Milliarden Franken stiftet (das sind 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts) und 263 000 Menschen Brot und Arbeit gibt. Insgesamt übersteige der Nutzen die Kosten bei weitem. Der Verkehr ist also eine feine Sache.

Bei genauerem Hinsehen kommen Zweifel. Was uns hier als «Nutzen des Verkehrs» verkauft wird, ist in Wirklichkeit Wertschöpfung. Diese stellt den Wert aller im Zusammenhang mit dem Verkehr erbrachten Leistungen dar. In der offiziellen Rechnung des Bundesamtes für Statistik beträgt der entsprechende Wert aber weniger als 10 (und nicht 52) Milliarden Franken. Wie kann das sein?

Der Trick ist einfach. Man rechnet das Ganze mit einer neuen Definition der Verkehrsbranche nochmals, addiert die für andere Branchen erbrachte Leistung sowie sämtliche Subventionen der öffentlichen Hand als Nutzen hinzu. Schon kommt man auf den fünffachen Wert. Vergleicht man diesen wiederum mit dem offiziellen Bruttoinlandprodukt, ergeben sich die 12 Prozent. Diese Zahl ist aber reine Augenwischerei. Würde man auf diese Weise die Wertschöpfung für alle Branchen berechnen, käme man in der Summe auf gut und gerne 500 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Der Trick funktioniert nämlich nur, wenn er auf eine einzelne Branche angewandt wird und damit Vorleistungen an andere Branchen hinzukommen.

Noch massiver wird die Zahleninflation, wenn die Studie darauf verweist, dass durch den Verkehr in anderen Branchen zusätzliche Einkommen generiert werden. Dieser «induzierte Wertschöpfungseffekt» wird auf sagenhafte 103 Milliarden Franken zusätzlich geschätzt. Damit wären wir bereits bei 35 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung.

Aber warum so bescheiden? Ist es denn nicht so, dass unsere Wirtschaft ohne den Verkehr auf der Strasse, der Schiene und in der Luft praktisch stillstünde? Die Produktion der wenigen Überlebenden, die sich in einer Schweiz ohne Strassen und Schienen auf Fusspfaden bewegen würden, wäre im Vergleich zu heute vernachlässigbar. Folglich muss man dem Verkehr die ganze Wirtschaftsleistung gutschreiben.
Hier zeigt sich der grundsätzliche Fehler in der Studienanlage. Die auftraggebenden Ämter wollten gemäss Ausschreibung der Studie den Gesamtnutzen des Verkehrs im Lande erfahren. Sie hatten gar die Vorstellung, man möge ihnen einfach eine Excel-Tabelle liefern, mit der sie selbst verschiedene Jahre berechnen könnten. Dabei war die Antwort schon klar. Der Nutzen des Verkehrs entspricht ziemlich genau dem Bruttoinlandprodukt, weil dieses ohne den Verkehr gar nicht zu erbringen ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis käme man aber auch bei der Frage nach dem Nutzen der Telekommunikation, des Bildungswesens, der Stromversorgung oder von Polizei und Justiz. Gäbe es diese volkswirtschaftlich vitalen Bereiche nicht, würde die Wirtschaft bald einmal zusammenbrechen, die Schweiz würde sich rasch entvölkern. Jedem dieser Bereiche verdanken wir folglich die gesamte Wirtschaftsleistung.

Es wird deutlich, dass die Frage nach dem Gesamtnutzen von wirtschaftlich zentralen Bereichen falsch gestellt ist. Ebenso problematisch ist aber auch die Saldierung von Kosten und Nutzen des Verkehrs im Sinne einer Gesamtbilanz. Die Studie kommt zum Schluss, der Gesamtnutzen des Verkehrs sei deutlich grösser als dessen Kosten - und zwar im Ausmass von 3 bis 8 Milliarden Franken pro Jahr. Liest man aber in den Fussnoten des Berichts nach, beruhen die Zahlen auf sehr groben Schätzungen und sind bestenfalls als «indikative Grössen» zu verstehen. Mit anderen Worten: Die Daten sind so ungenau, dass der Saldo durchaus negativ sein könnte. Wer sich das Studium der Fussnoten erspart, geht aufgrund der suggestiven Titel in der Zusammenfassung allerdings von einem positiven Saldo aus. Das dient der Sache des Verkehrs schliesslich besser.

Für die Lösung der Verkehrsprobleme ist ein Vergleich von Gesamtnutzen und Gesamtkosten ohnehin wertlos. Dies erwähnt auch die Studie. Verkehrspolitisch relevant wäre die Ermittlung des Zusatznutzens bei neuen Verkehrsprojekten sowie des Grenznutzens im Hinblick auf die Tarifierung und Finanzierung der Verkehrsleistungen. Um beides geht es aber in der Studie leider nicht.

Ganz nutzlos ist die Studie gleichwohl nicht. Sie sichert Arbeitsplätze in der Beratungsindustrie und liefert Munition für die Verkehrspolitik. So kommt der Bund zum Schluss, die Studie bestätige die Verkehrspolitik des Bundes. Der Nutzfahrzeugverband Astag nimmt von den Fakten mit Genugtuung Kenntnis und fordert eine verkehrspolitische Trendwende zugunsten der Strasse. Der Verkehrs-Club VCS hingegen verweist auf den grossen gemeinwirtschaftlichen Nutzen des öffentlichen Verkehrs und warnt davor, mehr Strassen mit mehr Wirtschaftswachstum gleichzusetzen. Ämter und Interessengruppen versuchen aus einer Studie politisches Kapital zu schlagen, obwohl hierzu keinerlei Basis besteht. Deshalb sind solche Studien nicht nur unnötig. Sie sind sogar politisch gefährlich.

(Tilman Slembeck, 43, ist Professor für Volkswirtschaft und lehrt an der Universität St. Gallen sowie an der Zürcher Hochschule Winterthur. Er befasst sich insbesondere mit den Gebieten der Verkehrs-, Bildungs- und Gesundheitsökonomie.)

03.12.2006, NZZ am Sonntag