«Der Flugverkehr belastet unsere Beziehung sehr» (Stuttgarter Zeitung)

Publiziert von VFSNinfo am
Schweizer Staatssekretär Michael Ambühl sagt, der Fluglärmstreit überlagert andere Themen und lasse sich nur im Paket lösen
 
Die Fronten im Fluglärmstreit zwischen Deutschland und der Schweiz sind verhärtet. Am Montag besucht die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey Stuttgart. Im Gespräch mit Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) will sie Chancen für eine Lösung im Fluglärmstreit ausloten. Vorbereitet hat den Besuch Michael Ambühl, der Staatssekretär und Politische Direktor im Schweizer Außenministerium. Der Diplomat hat auch die bilateralen Verträge für die Schweiz ausgehandelt. Er hat Frank van Bebber erklärt, wie die Schweiz sich eine für alle Seiten gesichtswahrende Lösung vorstellt.

Was wird Micheline Calmy-Rey dem Ministerpräsidenten Günther Oettinger zur Lösung des deutsch-schweizerischen Fluglärmstreits denn vorschlagen?
Frau Calmy-Rey hat ein attraktives Angebot im Gepäck und wird auf zentrale Aspekte hinweisen, die bisher untergegangen sind: Südbaden und die Nordschweiz bilden nämlich einen gemeinsamen Lebens- und Wirtschaftsraum mit großem Potenzial. Wir müssen diesen Standort gemeinsam stärken und dessen Attraktivität auch für die Zukunft sichern. Dabei geht es vor allem um die Verstärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Regelung der An- und Abflüge über süddeutsches Gebiet im Zusammenhang mit dem Flughafen Kloten wird Bundespräsident Moritz Leuenberger mit dem deutschen Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee diskutieren.

Staatsminister Willi Stächele und Politiker aller Parteien aus Südbaden haben erklärt, mehr als 80 000 Anflüge über deutsches Gebiet seien nicht akzeptabel. Was antworten Sie Ihnen?
Jeder starke Wirtschaftsstandort braucht einen leistungsfähigen, gut angebundenen Flughafen. Das heutige Regime schränkt den Betrieb des Flughafens Zürich unverhältnismäßig ein und ist deshalb für uns inakzeptabel. Am Samstag und am Sonntag ist der Nordanflug auf Zürich während 13 Stunden gesperrt. Kein vergleichbarer deutscher Flughafen ist so starken Restriktionen ausgesetzt.

Welche Zahl von Anflügen über deutsches Gebiet halten Sie für nötig - mehr als jene 100 000, die 2003 bereits in einem Staatsvertrag vereinbart waren, den die Schweiz aber ablehnte?
Offizielle Verhandlungen wurden noch nicht aufgenommen. So oder so wird es darum gehen, eine faire Verteilung der Belastung auszuhandeln.

Warum sollten die Deutschen das je akzeptieren?
Der Flughafen Zürich ist für die ganze Wirtschaftsregion, zu der auch Südbaden gehört, von großer Bedeutung. Wir Schweizer müssen auch den Transitverkehr durch den Gotthard akzeptieren. Für das Funktionieren des europäischen Binnenmarkts ist das vital, aber unserer lokalen Bevölkerung bringen diese Lastwagenkolonnen außer Lärm und Gestank überhaupt nichts.

Die Menschen in Südbaden müssen ertragen, was Sie Ihren Bürgern um Zürich nicht zumuten wollen?
Die Bürgerinnen und Bürger, die den meisten Fluglärm ertragen müssen, leben mehrheitlich in der Schweiz. Dazu eine konkrete Zahl: Von hundert Personen, die in ihren Wohnungen und Häusern dem Fluglärm von 45 oder mehr Dezibel ausgesetzt sind, leben 99 Personen in der Schweiz - und nur eine in Deutschland. 45 Dezibel entspricht dem Geräuschpegel einer durchschnittlich befahrenen Straße. Gemessen an den Vorteilen, welche der süddeutsche Raum aus der Nähe zur Schweiz gewinnt, ist diese Belastung nicht so hoch. Dazu noch eine Zahl: Die 40 000 deutschen Grenzgänger erwirtschaften in der benachbarten Schweiz ein steuerbares Einkommen von insgesamt fast drei Milliarden Schweizer Franken pro Jahr.

Wie soll ein deutscher Politiker hinter die geltende Verordnung mit ihren zeitlichen Beschränkungen zurückfallen, ohne vor seinen Wählern das Gesicht zu verlieren?
Wenn eine Frage die Beziehungen zwischen zwei freundschaftlich verbundenen Nachbarstaaten, die erst noch intensiven wirtschaftlichen Austausch haben, so sehr belastet, wie die Frage der An- und Abflüge, so können Politiker beider Länder nur gewinnen, wenn sie für das Problem eine Lösung finden. Deshalb wird es für niemanden einen Gesichtsverlust geben. Es geht darum, die konkreten grenzüberschreitenden Vorteile für alle Baden-Württemberger zu erkennen und die Zusammenarbeit zu verstärken und damit noch attraktiver zu machen.

Streben Sie eine Paketlösung an nach dem Muster: mehr Schweizer Patienten für deutsche Kliniken oder bessere Straßen- oder Zuganbindungen?
Die optimale Linienführung von Autobahnen, bessere Zuganbindungen oder auch die medizinische Behandlung schweizerischer Kassenpatienten in deutschen Kliniken sind denkbare Teile einer Lösung.

Könnte die Schweiz im Fluglärm-Streit Zugeständnisse bei der Suche nach einem Atommüllendlager nahe der Grenze machen, falls Deutschland einlenkt?
Baden-Württemberg ist in diesen Prozess eng eingebunden. Beide Seiten sind sich einig, dass die Sicherheit an erster Stelle stehen muss.

Neben den Fluglärm hat das Flugzeugunglück vom Bodensee 2002 die Luftüberwachung in den Mittelpunkt gerückt. Deutschland muss für Fehler der Skyguide haften. Soll eine - zuletzt vom Konstanzer Landgericht angemahnte - Regelung Teil der Verhandlungen mit Deutschland sein?
Über die Frage der Zuständigkeit für die Flugsicherung laufen separate Verhandlungen zwischen Deutschland und der Schweiz, die nicht mit den Gesprächen zum An- und Abflugverfahren zusammenhängen.

Wie wichtig ist die Lösung der Flugverkehrsfragen für das deutsch-schweizerische Verhältnis?
Sehr wichtig. Diese Frage belastet unsere sonst ausgezeichneten Beziehungen sehr.

Und wenn die Verhandlungen mit Deutschland scheitern?
Zunächst müssen die Verhandlungen überhaupt beginnen. Wir gehen davon aus, dass Deutschland bereit ist, in gutnachbarschaftlichem Sinne Lösungen mit uns zu suchen. In der Vergangenheit war dies immer der Fall.

Der Fluglärmstreit überlagert zur Zeit alle Themen - welche Fragen würden Sie noch gerne angehen?
Der Fluglärm-Streit überlagert tatsächlich die zentrale Frage. Und die lautet: Wie können wir unseren gemeinsamen Wirtschaftsstandort attraktiv behalten und dafür sorgen, dass er sich auch in Zukunft gegen die globale Konkurrenz behaupten kann?

Stuttgarter Zeitung, 23.09.2006