Handeln im Grenzbereich (Facts)

Publiziert von VFSNinfo am
Die Schweiz spricht mit Deutschland wieder über den Zürcher Flughafen. Sie bringt etliche Joker ins Spiel. So sollen sich zum Beispiel Schweizer künftig in deutschen Kliniken behandeln lassen.

Von David Schaffner und Urs Zurlinden

Das Problem ist gross, und die Zeit wird knapp: Bevor die Bevölkerung des Kantons Zürich am 15. April 2007 einen neuen Regierungsrat wählt, muss Bewegung in den Streit um den Zürcher Flughafen kommen. Im Wahlkampf wird sich kaum ein Politiker am heiklen Dossier die Fingerverbrennen wollen. Ist die neue Regierung dereinst im Amt, wird es noch schwieriger: Dann muss das Zürcher Volk voraussichtlich über mehrere Initiativen abstimmen, die eine Einschränkung der Flugbewegungen in Kloten fordern. Einen solchen Einschnitt in das wirtschaftliche Potenzial des Flughafens wollen die Zürcher Regierung und der Bund unbedingtverhindern.

Gleichzeitig wollen sie die lärmgeplagten Anwohner der Flugschneisen entlasten. Dies ist nur möglich, wenn die Deutschen wieder zu Zugeständnissen bereit sind und in einem neuen Staatsvertrag mehr An- und Abflüge über ihr Gebiet zulassen. Um sie zu diesem grossen Schritt zu bewegen, setzen die Schweizer nun auf Gegengeschäfte.

Wenn VerkehrsministerMoritz Leuenberger in der zweiten Oktoberhälfte nach Berlin zu seinem deutschen Amtskollegen Wolfgang Tiefensee fliegt, wird er etliche Joker im Handgepäck mitführen: Die Schweiz wird dem vom Fluglärm besonders betroffenen Bundesland Baden-Württemberg mehrere verlockende Angebote machen.

Vorbereitet hat Leuenbergers Reisegepäck das Aussenministerium von Parteikollegin Micheline Calmy-Rey unter dem Stichwort grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Das EDA ist zurzeit daran, mit Baden-Württemberg ein gemeinsames Arbeitsprogramm zu «finalisieren», bestätigt EDA-Sprecher Lars Knuchel. Bereits am 25. September wird die Schweizer Aussenministerin den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Günther Oettinger treffen. Der Verhandlungspoker beginnt.

  • Joker Gesundheitswesen: Die Schweizer Delegierten werden anbieten, dass sich künftig vermehrt Schweizer Patienten in süddeutschen Kliniken behandeln lassen. Zur Diskussion steht die Aufhebung des so genannten Territorialprinzips. Es legt fest, dass die Krankenkassen nur dann für eine Leistung bezahlen, wenn sie im Wohnkanton eines Patienten erbracht wird. Gibt die Schweiz dieses Prinzip auf, könnten die deutlich günstigeren Kliniken in Deutschland von einem massiven Zustrom an Patienten profitieren. «Ich gehe davon aus, dass die deutsche Seite ein Interesse an der Aufhebung des Territorialprinzips hat», sagt Michael Ambühl. Der EDA-Staatssekretär leitet auf Schweizer Seite die Gespräche zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Für eine Öffnung im Gesundheitswesen hat der Bundesrat im Frühling bereits die Weichen gestellt. Er ermöglichte, dass die beiden Basel und der deutsche Landkreis Lörrach im Gesundheitswesen enger zusammenarbeiten. Anlässlich eines Pilotprojekts können sich die Basler ab 2007 auch in deutschen Spitälern behandeln lassen. Die Resultate dieses Projekts sollen darüber Aufschluss geben, ob der Bund das Territorialprinzip künftig vollständig aufheben will. Für das Land Baden-Württemberg wäre dies äusserst willkommen. Es wirbt im Internet als «Gesundheitsland». Jeder zehnte Arbeitsplatz ist im Gesundheitswesen angesiedelt. Allein im Bereich Rehabilitation gibt es rund 250 Kliniken. Mit Verweis auf die anstehenden Gespräche will sich der zuständige Minister Willi Stächele gegenwärtig nicht äussern. Aus dem Gesundheitsministerium ist jedoch zu erfahren, dass ein starkes Interesse an den Schweizer Patienten besteht. Dies bestätigt Friedberg Lang, Geschäftsführer des Verbundes der deutschen HBH-Kliniken: «Die Hälfte des Gebietes, aus dem die Patienten zu uns kommen könnten, liegt brach. Öffnet die Schweiz die Grenzen, so ändert sich dies.» Die Vorteile einer Zusammenarbeit würden nicht nur auf deutscher Seite liegen. Die Schweizer Patienten könnten von den bis zu 40 Prozent tieferen Preisen profitieren. Die Krankenkassen Helsana und CSS haben sich daher bereits für eine Öffnung stark gemacht. Laut einer noch unveröffentlichten Umfrage des Krankenkassenverbandes Santésuisse stehen über 70 Prozent der Schweizer einer Behandlung im Ausland offen gegenüber, falls diese zu tieferen Preisen die gleiche Qualität bietet.
     
  • Joker Flughafen: Der Hub in Kloten bietet für ganz Süddeutschland eine wichtige Infrastruktur: Jede fünfte Flugbewegung kommt von oder geht nach Deutschland. Unter den weltweit zwanzig Top Destinationen liegen fünf im nördlichen Nachbarland. Neben der Swiss benutzen die beiden Fluggesellschaften Air Berlin und Lufthansa den Flughafen am häufigsten. Unter den 22 340 Personen, die dort arbeiten, figurieren 936 deutsche Staatsangehörige. Dennoch hat sich Deutschland bisher nicht für den Flughafen Zürich engagiert. Dies soll sich nach dem Willen von Bundesbern ändern. «Wir wollen über eine Beteiligung von Baden-Württemberg am Flughafen Zürich verhandeln», sagt Staatssekretär Michael Ambühl. Wünschenswert sei eine bessere Integration im Betrieb, allenfalls eine finanzielle Beteiligung.

    Ob bereits heute private deutsche Investoren am Flughafen beteiligt sind, ist nicht bekannt. Unique, die Flughafen Zürich AG, gibt keine Auskünfte über einzelne ihrer 3828 Aktionäre. «Unique ist eine börsenkotierte Unternehmung», sagt Mediensprecherin Sonja Zöchling, «jedermann hat das Recht und die Mög-lichkeit, Unique-Aktien zu kaufen.»
     
  • Joker Autobahn: Deutschland ist gegenwärtig daran, die Autobahn A 98 von Lörrach nach Waldshut zu verlängern. Die Strecke führt entlang der Grenze zur Schweiz. Vorläufiges Ende dieser Planung ist der Schaffhauser Zipfel. Eine West Ost-Verbindung bis nach Singen und damit zu einem Anschluss an die A 81 entspricht einem langjährigen Wunsch der Deutschen. «EineWeiterführung derA98 stand immer schon im Raum», sagt Joachim Müller, Sprecher des Regierungspräsidiums in Freiburg im Breisgau. Doch davon wollen weder die Kantone Schaffhausen noch Zürich etwas wissen. Dies könnte sich ändern. Bei den Verhandlungen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit will man auch überVerkehrsprojekte sprechen. Wenn die Schweiz bei derA 98 zu Zugeständnissen bereit ist, könnte sie für den Flughafen Kloten wohl einiges herausholen. Immerhin gibt es bei den Themen einen starken inhaltlichen Zusammenhang: Es geht in beiden Fällen um Verkehrsemissionen, die das Nachbarland mitzutragen hat.
     
  • S-Bahn: Obwohl heute viele Deutsche in der Schweiz arbeiten, ist Baden-Württemberg noch kaum an das Netz der Zürcher S-Bahn angeschlossen. Täglich gibt es nur eine einzige direkte Verbindung von Waldshut nach Zürich. Dies könnte sich ändern, wenn der Zürcher Verkehrsverbund eine stündliche Verbindung schafft.
     
  • Joker Benken: In der Schweiz bestehen Pläne, in der Nähe zur deutschen Grenze ein Endlager für atomare Abfälle zu bauen. Die Deutschen wünschen, dass die Schweizer einen Standort weiter im Landesinneren suchen. Dies forderte kürzlich dieWaldshuter SPD-Bundestagsabgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter. Noch können die Schweizer ihre Pläne ändern. Erst im kommenden Jahr will der Bund das Auswahlverfahren für den definitiven Standort starten.


Ob die deutschen Verhandlungspartner darauf einsteigen, die Flughafen-Problematik mit anderen Themen zu verknüpfen, wird sich zeigen. Bisher äusserten sie sich ablehnend. Der Waldshuter Landrat Tilmann Bollacher: «Wir lehnen Koppelgeschäfte strikt ab.» Wie auch immer der Fluglärm-Knatsch ausgehen wird, die Fäden nach Deutschland verdichten sich. Die Schweiz ist zum beliebtesten Auswanderungsland der Deutschen geworden. Im vergangenen Jahr sind 14\'400 Deutsche in die Schweiz gezogen. Keine andere Ausländergruppe ist so stark gewachsen, seit vor vier Jahren das Freizügigkeitsabkommen mit der EU in Kraft getreten ist. Inzwischen leben 162\'000 Deutsche in der Schweiz. In der Stadt Zürich bilden sie mit 19\'300 Personen gar die grösste Ausländergruppe.

Die Ausnahme: Ausgerechnet in der Flughafen-Gemeinde Kloten ist ihr Anteil seit 2001 um 3,4 Prozent zurückgegangen. Hans-Peter Buchervom statistischen Amt des Kantons Zürich hat dafür eine Interpretation: «Vermutlich lassen sich die Deutschen, die in der Regel sehr gut ausgebildet sind, eher in besseren Wohnlagen nieder und nicht in lärmigen Gemeinden.»

Facts, Nr. 36 vom 07.09.06, Seite 37 




Zum Thema \""Verhandlungen mit Deutschland\"" siehe auch:

Vorgeplänkel im Fluglärmstreit (NZZ, 11.08.06)
Deutsches Verwirrspiel um Flughafen-Staatsvertrag (TA, 12.08.06)
Bewegung im Fluglärmstreit (NZZ, 13.08.06)
Stächele erntet blanken Hohn (Südkurier, 14.08.06)
Diktiert Deutschland einen neuen Staatsvertrag? (VFSN, 15.08.06)
Mit klaren Zielen nach Berlin für eine bessere Anflugregelung (NZZ, 19.08.06)



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