«Weiterer Vorfall ist eine Frage der Zeit» (Landbote)

Publiziert von VFSNinfo am
Kaum ein Flugbetrieb muss sich so stark nach lärmpolitischen Vorgaben richten wie jener in Kloten. Ein Gespräch mit Gabriela Plüss und Jürg Ledermann: einer Flugverkehrsleiterin und einem Piloten.

Frau Plüss, Sie arbeiten am Flughafen Zürich im Kontrollturm. Hören Sie die Flugzeuge auch zuhause?
Gabriela Plüss: Ich wohne in Wallisellen. Nach den Starts Richtung Süden fliegen die Flugzeuge direkt über unser Haus

Herr Ledermann, Sie sind Airbus-Pilot bei der Swiss, wohnen in Glattfelden. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Jürg Ledermann: Wir hören die Starts Richtung Norden am Morgen und am Abend sowie die Anflüge aus Norden.

Der Lärm stört Sie nicht?
Ledermann: Nein, die Kirchenglocken sind deutlich lauter. Beides toleriere ich aber, weil meine Frau und ich uns entschieden haben, dort zu wohnen.

Plüss: Ich nehme den Lärm vor allem wahr, wenn eine Maschine am frühen Morgen durchstartet und voll Schub gibt. Das passiert aber sehr selten. Das Dauerrauschen der Autobahn höre ich viel stärker.

Verstehen Sie Anwohner, die sich über Fluglärm aufregen?
Ledermann: Tagsüber ist der Verkehrslärm in der Stadt wohl präsenter. Als störend werden ja vor allem die Starts nach 23 Uhr empfunden.

Plüss: Die halbe Stunde zwischen 23 und 23.30 Uhr nutzen wir, um Verspätungen abzubauen, die sich tagsüber kumuliert haben. Das Problem ist, dass diese halbe Stunde mittlerweile fast täglich benötigt wird. Da kann ich verstehen, dass sich die Anwohner ein wenig verschaukelt fühlen.

Also müsste man vor allem die Verspätungen verhindern?
Plüss: Diese entstehen aber zum grössten Teil gerade wegen der Lärmschutzvorgaben in Zürich. Und auch weil der Flughafen Zürich mehr Kapazität anbietet als das System verkraften kann.

Können Sie das näher erklären?
Plüss: Der Klassiker ist der Start auf Piste 16 Richtung Süden. Nehmen wir an, Jürg fliegt mit dem Airbus nach San Francisco. Wenn er auf der Piste 16 startet, darf ich ihn nicht zuerst geradeaus und dann rechts Richtung Westen leiten, was eigentlich die schnellste und sicherste Variante wäre. Nein, er muss gleich nach dem Start in einer 270-Grad-Kurve links abdrehen und noch einmal über den Platz fliegen.

Was heisst das für den Betrieb?
Plüss: Damit kreuzt er nicht nur einen möglichen Durchstart der Flugzeuge, die auf Piste 14 landen. Er blockiert auch die Starts auf Piste 28. Sobald Jürg auf Piste 16 startet, geht dort drei Minuten lang nichts mehr. Zudem muss ich die Anflüge auf Piste 14 unterbrechen. Oder anders formuliert: Dieser Start kostet mich drei Landungen. Da ist es ja logisch, dass es Verspätungen gibt. Unser COO Alex Bristol hat kürzlich gesagt, dass am Flughafen Zürich rund 40 Prozent der Kapazität nicht genutzt werden kann – alleine wegen der Lärmpolitik.

Was wäre die Lösung?
Plüss: Man müsste die Flugrouten entflechten. Der «Südstart gerade aus» würde viele Probleme lösen und gleichzeitig Verspätungen reduzieren. Leider wird dieses Verfahren vom Flughafen und von der Politik verhindert.

Ist es nicht sicherer, die Routen zu kanalisieren statt zu streuen?
Plüss: Nein. Durch die lärmpolitisch bedingte Bündelung hat es viele Kreuzungen zwischen den Abflugrouten. Zudem kommen allfällige Durchstarts den Abflügen in die Quere. Innerhalb der Abflugverfahren in Zürich haben wir 27 Kreuzungspunkte, was den Betrieb ineffizient und komplex macht. Jede Kreuzung ist ein potentieller Gefahrenherd, das ist im Strassenverkehr ja nicht anders. Wien hat praktisch gleich viele Abflugrouten wie Zürich aber keinen einzigen Kreuzungspunkt zwischen diesen Routen.

Gibt es konkrete Vorschläge, um dieses Problem zu lösen?
Ledermann: Ganz einfach, indem ich auf Piste 16 geradeaus starten und dann die Richtung meines Ziels einschlagen könnte. Aber der «16 straight» ist aus lärmpolitischen Gründen scheinbar nicht möglich.

Und wegen der Angst vor einem Absturz in besiedeltes Gebiet.
Ledermann: Es gibt unzählige Flughäfen, wo direkt über die Stadt geflogen wird. Zum Beispiel in London. Übrigens: Wenn in Zürich nach dem Start auf Piste 16 ein Triebwerk ausfällt, führt die Route schon heute zuerst geradeaus Richtung Dübendorf und dann zurück zum Flughafen.

Wieso setzt sich der Flughafen nicht stärker für den «16 straight» ein?
Ledermann: Er will Abstimmungen gewinnen und deshalb die Einwohner im Süden nicht vergraulen. Er sagt, er brauche die Stimmen der Stadtbevölkerung und derjenigen am Zürichsee.

Ist der «16 straight » auch aus Lotsen-Sicht die beste Lösung?
Plüss: Wir fordern ihn vehement. Dass er hervorragend funktioniert, haben wir 2000 gesehen. Wegen Bauarbeiten war die Piste 28 eine Zeit lang gesperrt. Die Flugzeuge landeten von Norden her auf Piste 14 und starteten auf der 16 geradeaus Richtung Süden. Der Betrieb war nie so effizient und sicher wie in jenem Sommer. Wir hatten praktisch keine Verspätungen. Heute ist es so, dass ein Pilot bei starkem Aufkommen bis zu 15 Minuten mit laufenden Triebwerken auf den Start warten muss. Ledermann: Die Einschränkungen wirken sich ja nicht nur auf die Starts aus. Damit am Wochenende die Morgenwelle pünktlich rauskommt, ist der Flughafen von 7 bis 7.30 Uhr für Anflüge gesperrt. Das ist ziemlich «unique».

Gibt es keine Alternativen?
Plüss: Das Betriebsreglement und die deutsche Verordnung geben uns vor, wann auf welchen Pisten gelandet und gestartet werden darf – und mit welchen Maschinen. Da bewegen wir uns in einem sehr engen Korsett, das zur Folge hat, dass wir mindestens zwei Mal täglich das An- und Abflugkonzept umstellen müssen, je nach Wetter auch häufiger. Und jeder Wechsel erhöht natürlich die Komplexität, weil wir jedes Mal die Zuständigkeitsbereiche der Sektoren ändern und die Verkehrsströme umleiten müssen. Sie erwähnten mehrfach die Komplexität. Damit umzugehen ist doch Teil Ihres Jobs. Plüss: Das System am Flughafen Zürich ist heute nicht mehr fehlerfrei zu beherrschen. 12 schwere Vorfälle in 10 Jahren im Zusammenhang mit kreuzenden Pisten und Flugrouten ist zu viel. Daher fordern wir seit Jahren mehr Sicherheitsmarge im System. Menschen machen Fehler, das lässt sich nicht vermeiden.

Wie beim schweren Vorfall 2011, als sich zwei startende Swiss-Airbus gefährlich nahe kamen.
Plüss: Das hätte mir und jedem meiner Kollegen passieren können. Im Schlussbericht zu diesem Vorfall bestätigt die Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle, dass der Betrieb am Flughafen Zürich eine geringe Fehlertoleranz aufweist, dass eine Bündelung der Routen zwar den Lärm für die Anwohner reduziert, diese Vorteile aber durch eine höhere Komplexität erkauft werden und als solche eine Gefahr darstellen. Seit 2000 haben sich in unmittelbarer Nähe des Flughafens zwölf vergleichbare schwere Vorfälle ereignet. Das ist alarmierend.

Was wurde nach dem Vorfall unternommen?
Plüss: Skyguide hat ihre Hausaufgaben gemacht, aber das reicht nicht aus. Bei diesem Vorfall war ein Vermessungsflieger involviert. Diese dürfen nun wieder nachts fliegen, um die Komplexität zu reduzieren. Skyguide hat zudem zu Spitzenzeiten mehr Personal im Tower und einen zusätzlichen Kontrollsektor geschaffen, um die Arbeit besser zu verteilen. Technische Systeme wurden verbessert und Alarme werden früher ausgelöst. Aber die grossen Würfe – die Entflechtung der Routen und der «16 straight» – werden vom Flughafen und der Politik verhindert.

Helfen Pistenverlängerungen?
Ledermann: Jeder Meter mehr Piste ist ein Meter mehr Sicherheit, wenn es darum geht, das Flugzeug im Notfall noch auf der Piste zum Sillstand zu bringen.

Plüss: Ob diese paar Meter ausreichen, damit beispielsweise auch schwere Langstreckenflieger auf der Piste 28 starten können, kann ich nicht beurteilen.

Eine Verlagerung der Kleinfliegerei nach Dübendorf?
Plüss: Da kleine Flugzeuge langsamer sind als grosse, erhöhen sie die Komplexität. Nicht mehr auf Cessnas und Pipers achten zu müssen, würde den Betrieb vereinfachen.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sich am Flughafen Zürich zugunsten der Effizienz und Sicherheit etwas tut?
Ledermann: Ich befürchte, dass sich die Fluglärmgegner weiter durchsetzen werden und die Schweiz als Luftfahrtstandort ins Hintertreffen gerät, vor allem wenn man sieht, wie Hubs in der Türkei und im Mittleren Osten ausgebaut werden.

Plüss: Ich habe das Gefühl, dass der Druck noch nicht gross genug ist, um sich in dieser Frage zu bewegen. Meine Befürchtung ist, dass dies erst der Fall sein wird, wenn etwas Gröberes passiert. Wenn man das System nicht vereinfacht, ist es eine Frage der Zeit, bis wir einen weiteren schweren Vorfall haben werden. ()

Der Landbote, 03.06.2016

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