Der Fluglärm raubt die innere Ruhe (TA)

Publiziert von VFSNinfo am

Vier Monate nach dem ersten Südanflug fühlen sich die Bewohner ohnmächtig. Der Fluglärm dominiert ihr Denken und ihr Leben.

«So schlimm kann es doch nicht sein», hören die Bewohner der Südanflugschneise immer wieder, wenn das Gespräch auf das Fluglärmthema kommt. Doch, sagen sie dann. Es ist sogar noch schlimmer. Der Lärm stört sie nicht nur, wenn die Flugzeuge frühmorgens 350 Meter über ihren Häusern Richtung Kloten donnern. Er ist wie ein Virus in ihr Leben eingedrungen. Er beherrscht ihre Gedanken. Er stört sie rund um die Uhr.

Anhaltender Schockzustand

Vor bald vier Jahren, als sich die deutsche Anflugsperre am Rhein abzuzeichnen begann, kam der Südanflug als Option ins Gespräch. Im Juni 2003 hat ihn Bundesrat Leuenberger auf Ende Oktober angekündigt. Als der erste dann stattfand, war er dennoch ein Schock. «Ich hätte mir nie vorstellen können, dass das so laut ist», sagen die meisten. Darum hätten sie sich früher nicht um den Fluglärm gekümmert: «Wer das nicht selber erlebt hat, weiss nicht, was es heisst.» Der Schock hat sich mit jedem Lärmereignis tiefer ins Bewusstsein gefressen. Bis heute, rund 1500 Überflüge später, hat er nicht nachgelassen. «Es ist, als läge immer ein Schatten über dem Leben», sagt Christoph Renfer in Binz. Die Flugzeuge fliegen meist genau über sein Haus. Renfer und seine Frau Inés Martín sind Übersetzer. Das heisst: viel Nachtarbeit, weil die Aufträge oft nach Büroschluss eintreffen und bis am Morgen erledigt sein sollten. «Wenn man dann noch früh aufgeweckt wird, geht das an die Substanz» - zumal die Seele den Lärm antizipiert. Am Samstag war Renfer um 6.04 Uhr hellwach, obwohl wegen Nebels keine Südanflüge stattfanden, am Sonntag, als sie kamen, sowieso.

Lebensrhythmus aus den Fugen

«Es ist, wie wenn mir einer mit dem Traktor durchs Schlafzimmer fahren würde», sagt Biobauer Ruedi Attinger aus Gockhausen. Der Stress sorge schon am Morgen für eine «Mattscheibe». In zahlreichen Familien ist der Lebensrhythmus aus den Fugen geraten, weil die Kinder schon um 6 Uhr nach Action dürsten. Oder weinen, weil sie noch müde sind. «Bei jedem Zmorge schon Missstimmung - das hält auf Dauer keiner aus», sagt ein Vater.

Was die Leute umtreibt, ist längst nicht mehr nur die Störung an sich. Der Fluglärm hat ihnen, wie seit 2001 auch den Bewohnern der Ostanflugschneise, faktisch die Morgen- und bei starker Bise teils auch die Abendruhe geraubt. Mit der Ruhe ist das Gefühl abhanden gekommen, in ihrem Leben zu ruhen, es im Griff zu haben. Für Matthias Müller auf der Forch, wie seine Frau Musiker mit Nachtarbeit, sind die Südanflüge «ein unwahrscheinlicher Eingriff». Er hat schon wiederholt das Wort Vergewaltigung gebraucht. «Ein Flugzeug ein paar Hundert Meter über dem Haus - das ist nicht wie ein Auto, das auf der Strasse vorbeifährt. Das ist ein donnerndes Zeichen von Gewalt - gross, mächtig, beängstigend.» Es sei zwar nicht mehr jeden Morgen wie an jenem ersten Morgen im Oktober. Doch daran gewöhnen, wie sich Gleisanwohner an Zug- oder Tramlärm gewöhnen, kann er sich nicht.

Oropax fürs Gemüt gibt es nicht

Die Geplagten haben pragmatische Strategien entwickelt. Stopfen sich Oropax in die Ohren, die sinnigerweise gelb sind wie die Banderolen des Vereins Flugschneise Süd Nein. Lassen die Fenster geschlossen, was ihnen für den Sommer böse Vorahnungen beschert. Schlafen auf einem Futon im Keller, um von den Quellen des Fluglärms weiter entfernt zu sein. Reisen wie Stephan Oehen aus Maur oder die Familie Bütler aus Gockhausen ins Ferienhaus im Tessin oder ins Appenzeller Refugium, wenn sie wieder mal ausschlafen wollen. Von einem Bewohner der Ostanflugschneise in Nürensdorf wird berichtet, er fahre spät nachts ins Büro in Zürich, um ungestörten Schlaf zu finden, und verbringe nur noch die Abende zu Hause.

Gegen die allgemeine Verunsicherung, die mit dem Raub der Ruhe einhergeht, gibt es keine Strategien. Der demokratisch legitimierte Widerstand der Betroffenen, die sich in Bürgerorganisationen vereint haben, dauert zwar an. Hausbesitzer schreiben verbitterte Briefe an den Flughafenchef, an Kantons- und Bundespolitiker, an Verkehrsminister Moritz Leuenberger, «persönlich». Sie wollen in der Steuererklärung kleinere Vermögens- und Eigenmietwerte geltend machen. Sie wollen die Bundessteuer verweigern. Josef und Margrit Zimmermann im Geeren in Gockhausen leben nach dem Motto: Jede Woche eine gute Tat gegen den Fluglärm. An Weihnachten schalteten sie mit Gleichgesinnten ein sarkastisches Zeitungsinserat: «Unique wünscht Ihnen frohe Weihnachten.» Sie spannten ein riesiges Leintuch gegen den haifischbezahnten Moloch Flugverkehr aufs Scheunendach, haben eine Schallmessstation hinter dem Haus, bestellten einen Laser-Distanzanzeiger, um die variierende Höhe der Maschinen über Grund auf den Meter genau zu messen.

Es kam zu hilflosen Protestaktionen. Gestandene Bürger schickten Fesselballone in die Luft, andere zündeten in der Dunkelheit mit Stablampen in den Himmel, um den Piloten zu zeigen, dass da unten Menschen wohnen. Zwei Männer wurden deswegen vorübergehend verhaftet. Postwendend reichten Private Strafanzeigen ein, weil die Piloten mit ihren Landescheinwerfern die Leute am Boden blenden - und wegen Ruhestörung am frühen Morgen. Rasenmähen um 6 Uhr sei strafbar, sagt einer. Er sieht nicht ein, warum Überflüge mit bis zu 87 Dezibel Schall gestattet sein sollten.

Zerfall des Gemeinschaftsgefühls

Doch mit den Piloten und den Einwohnern in der Anflugschneise ist es wie mit dem Stammtischlästern über die Politik in Bundesbern: Die da oben, wir da unten. Das empfinden die Fluglärmopfer am stärksten: Machtlos mitansehen zu müssen, wie die gewählten Politiker die Sorgen der Bevölkerung nicht ernst nehmen. «Ich friss es im Momänt i mich ine», sagt Werner Zell in Gockhausen. Der kultivierte Herr trägt eine solche Wut mit sich herum, dass er den Verantwortlichen «die Faust geben» könnte. Die «Akkumulation von Ungerechtigkeiten» zermürbe die ganze Lebenseinstellung, sagt Bauer Ruedi Attinger. Zuerst die Südanflüge, dann die angekündigte freie Nutzung des ganzen Pistensystems, die weite Linkskurve nach den Starts Richtung Süden und erst noch kein Steuernachlass. «In mir macht sich eine ‹Läck mer›-Stimmung breit.» Die Luftfahrtpolitik habe ihm ein Stück Heimat genommen.

«Das könnte noch bürgerkriegsähnliche Dimensionen annehmen», sagt Stefan Rotzler, der am Waldrand in einem ringhörigen Leichtbau-Holzhaus wohnt - dort, wo der Zürcher «Konkrete» Gottfried Honegger Bilder malte und Max Frisch vorübergehend Ruhe zum Schreiben fand. An diese Möglichkeit denken alle: Dass es einmal einem «das Ventil usejagt» - einem der vielen, die hohe Hypotheken am Hals und nicht genug Geld haben, um in eine leisere Landesgegend zu ziehen.

Tages-Anzeiger, 09.03.2004